678 V. 9. Der Niedergang des Deutschen Bundes.
neue Erzbischof Vicari um diese Zeit zuerst nach Konstanz kam, da ge—
rieten seine Anhänger mit den Gegnern in wüste Raufhändel.
Erstaunt über den Sturm der klerikalen Petitionen aus dem Ober—
lande, entschloß sich der Großherzog nunmehr zu einem unbegreiflichen
Mißgriff. Er löste im Febr. 1846 die Kammer auf, ohne jeden genügen—
den Grund, wohl in der Hoffnung die liberale Opposition zu schwächen.
Die Rechnung trog gänzlich. Nach einem abermaligen heftigen Wahl—
kampfe gewannen die Klerikalen nur einen einzigen neuen Abgeordneten,
den unglücklichen Buß; der aber wurde durch Mathy an seine radikale
Vergangenheit so nachdrücklich erinnert, und als er dreist ableugnete,
so schmählich überführt, daß ihn die Kammer fortan kaum noch anhören
mochte. Stärker denn je zuvor kehrten die Liberalen in den Landtag
zurück, und sie traten, wie billig, der ratlosen Regierung sehr scharf
entgegen. Mit der nahenden Revolution zu drohen, war in dieser Kammer
schon von langeher üblich, Welcker vornehmlich pflegte solche Schreckbilder
fast in jeder Rede vorzuführen. Jetzt aber warnte auch Mathy, der nie ein
unbedachtes Wort sprach, als der Antrag auf Preßfreiheit zum neunten
Male gestellt wurde: „Ich kann mich der Ahnung nicht entschlagen, daß
diesem neunten Antrage nicht eine gleiche Anzahl folgen, daß die Zeit
nicht mehr fern sein werde, wo über Tag oder Nacht, über Leben oder
Tod die Entscheidung fällt.“ Mochte auch Nebenius diesen „unwürdigen
Ton“ entrüstet zurückweisen, am Hofe selbst ahnte man doch endlich,
daß die unverkennbar liberale Gesinnung des Landes nur durch ein
liberales Ministerium befriedigt werden konnte. Das wohlhabende Land
blieb von den Hungerkrawallen dieser Teuerungsjahre fast ganz verschont,
gleichwohl fühlte jedermann die allgemeine Aufregung. Sogar Blitters-
dorff äußerte sich von Frankfurt her in diesem Sinne; seine Hoffnung
war freilich, die Liberalen würden ihre Unfähigkeit zum Regieren bald
zeigen und dann, rasch vernutzt, einem reaktionären Ministerium weichen
müssen. Auch Radowitz, dessen Rat der Großherzog immer wieder ein-
holte, widersprach nicht geradezu, obgleich er auch jetzt noch in dem Wahne
lebte, man könnte auf gesetzlichem Wege zu einer Verfassungsänderung
gelangen.*) Entscheidend jedoch war, daß Nebenius selbst wünschte, das
Ruder des Staates an kräftigere Hände abzugeben.
So wurde denn endlich (Dez. 1846) Staatsrat Bekk, der schon seit
einiger Zeit dem Ministerium angehörte, an die Spitze der Regierung
gestellt, ein tüchtiger Jurist und wirksamer Kammerredner von gemäßigt
liberaler, aufrichtig katholischer Gesinnung; er gehörte zu der alten guten
Winterschen Beamtenschule und hatte sich durch Gerechtigkeit und Milde
allgemeine Achtung erworben. Die gröbste Willkür der Zensoren und der
Polizeibehörden hörte nunmehr auf; es war Bekks Verdienst, daß die Ge-
*) Radowitzs Bericht, 10. Dez. 1846.