Magyarische Bewegung. 715
das katholische Herrscherhaus nochmals lebendig; man entsann sich wieder
der schrecklichen Zeiten, da halb Ungarn gerufen hatte: lieber türkisch
als österreichisch. Gut kaiserlich dachte nur noch ein Teil der Magnaten
und des hohen Klerus; dazu noch mit halbem Herzen die Kroaten und
die siebenbürgischen Sachsen. Zu allem Unglück starb im Januar 1847
der greise Palatinus Erzherzog Joseph, den die Hofburg von langeher wie
einen anderen Rebellen Rakoczy beargwöhnte; er hatte, seit einem halben
Jahrhundert in Ungarn heimisch, mit bescheidenem Talent, aber ehrlichem
Wohlwollen die nationalen Gegensätze doch noch leidlich unter der Glocke
gehalten. Als Nachfolger war nur sein Sohn Erzherzog Stephan möglich,
ein liebenswürdiger, gutherziger, in allen erdenklichen Wissenschaften als
Dilettant bewanderter junger Herr. Viele hielten ihn, da das kaiser—
liche Haus an Talenten so arm war, für einen großen Staatsmann und
dachten ihm dereinst die Stelle des kläglichen Triumvirn Erzherzogs Lud—
wig zu; doch er geizte nach Volksgunst, es war kein fester Kern in ihm,
und nicht ohne schwere Besorgnis ließ Metternich den Unerfahrenen in
dies Chaos nationaler Leidenschaften hinüberziehen. Im November 1847
wurde der Reichstag durch den traurigen Kaiser-König zum ersten Male
in magyarischer Sprache eröffnet; aber obwohl der König sich zu meh-
reren verständigen Reformen erbot, so begann doch Kossuth sofort einen
wütenden Kampf gegen das bettelhafte Privilegium der adligen Steuer-
freiheit, und die Mehrheit des Hauses zeigte sich der Krone entschieden
feindlich. In halbbarbarischen Ländern verbreiten sich die Gedanken des
Widerstandes mit geheimnisvoller Schnelligkeit; Ungarn war, ohne daß
man es zu Wien noch ahnte, im Frühjahr 1848 schon ebenso reif für
einen großen Aufstand, wie späterhin im Sommer 1866.
Was vermochte der Hofden gewaltigen zentrifugalen Kräften aller dieser
Nationen entgegenzustellen, die noch dazu, mit einziger Ausnahme der Ma-
gyaren, sämtlich sehnsuchtsvoll nach den Stammgenossen jenseits der
Reichsgrenzen hinüberschauten? Wahrhaftig nicht die deutsche Bildung,
die, im geselligen Leben allezeit unentbehrlich, doch unter dieser Regierung
ihre eigenste Kraft niemals frei entfalten durfte. Noch weniger die Bu-
reaukratie. Sie wurde von Metternich belobt, weil sie keinen solchen „Über-
fluß an schoflen Elementen“ enthielte wie das preußische Beamtentum; und
allerdings konnten die k. k. Hof= und Gubernialräte unmöglich irgend eines
eigenen Gedankens verdächtigt werden, doch wer durfte sich in Tagen
der Gefahr auf dies seelenlose, nachlässige, bestechliche Schreibervolk ver-
lassen? Die kräftigste Stütze des Reichs blieb das Heer, das sich auch
unter Metternichs unmilitärischem Regimente den alten Stolz bewahrte.
Zumal die deutschen Offiziere, die aus den Kleinstaaten und aus Preußens
katholischen Provinzen noch immer herbeikamen, kannten keine andere Hei-
mat als die schwarzgelben Fahnen; nur auf die magyarischen und einige
der polnischen Regimenter ließ sich nicht mehr mit Sicherheit rechnen.