Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Italiens Erhebung. Pius IX. 717 
römischer Strenge seine Landsleute zu sittlicher Ermannung, zu kriegeri- 
rischer Abhärtung, Massimo d'Azeglio verlangte angesichts der Unruhen in 
der päpstlichen Romagna verständige Reformen in Rechtspflege und Poli- 
zeiverwaltung. 
Nun fügte es ein ironisches Spiel des Schicksals, daß alle die seltsamen 
Träume der Neoguelfen sich plötzlich zu erfüllen schienen. Nach dem Tode 
Gregors XVI., im Sommer 1846 bestieg Kardinal Mastai Ferretti als 
Pius IX. den römischen Stuhl, ein weichmütiger, wohlwollender, eitler, 
gedankenarmer Mann von schwachem politischem Verstande, italienisch ge- 
sinnt, soweit ein Papst es durfte, ehrlich gemeint, mit aller Welt in Frieden 
zu leben. Er begann seine Regierung mit einer hochherzigen Amnestie, 
und da die Erscheinung eines Papstes, der seine Feinde nicht auf die Ga- 
leeren schickte, seit langem unerhört war, so entwarf sich die ungeduldige 
Nation alsbald ein Idealbild von dem liberalen und nationalen Papste, 
ganz so wie die Deutschen sich den alten Erzherzog Johann wegen eines 
halbmythischen Trinkspruchs idealisiert hatten. Seit jenem Tage, da die 
Amnestierten mit Palmenzweigen in den Händen den Wagen des „Engels 
der Freiheit“ durch den festlich geschmückten Korso geleiteten, lebte Rom 
anderthalb Jahre hindurch wie in einem ewigen Rausche. Immer wieder 
führte der Pöbelkönig, der Vetturin Ciceruacchio mit der dreifarbigen 
Fahne sein Römervolk dem vergötterten Pontifex vor. Auch die Fremden 
widerstanden dem allgemeinen Taumel nicht; einmal trug der Sohn des 
Historikers, Marcus Niebuhr, der bei König Friedrich Wilhelm in beson- 
derer Gnade stand, an der Spitze der deutschen Kolonie die schwarzrot- 
goldene Fahne feierlich auf das Kapitol. Der Ruf Evviva Pio Nono wurde 
bald zum Losungsworte aller Patrioten. Metternich klagte, dieser Hohe- 
priester würfe den Pechkranz in das Gebäude der sozialen Ordnung, und 
nicht lange, so erschien sogar ein Gesandter des liberalen Sultans, um 
dem liberalen Papste die Verehrung des Großtürken auszusprechen. 
Bisher hatte Pius nur einmal die Gelegenheit gehabt, einen politischen 
Entschluß zu fassen: vor langen Jahren schon, da er als Bischof in der Ro- 
magna den Umsturzplänen der jungen Prinzen Napoleon tapfer entgegen- 
getreten war. Jetzt stand er, obwohl ihm die Kundgebungen der Volksgunst 
in tiefster Seele schmeichelten, ängstlich und ratlos vor schweren Aufgaben, 
welche weit über das Maß seiner Begabung hinausgingen. Wer hätte da- 
mals geahnt, daß aus diesem guten Manne dereinst noch der hochmütigste 
aller Päpste werden sollte? Er ahnte dunkel, daß einige Reformen unver- 
meidlich waren, etwa im Sinne des Bunsenschen Memorandums vom Jahre 
1831, das die großen Mächte dem römischen Stuhle so oft zur Beherzigung 
vorgehalten hatten); doch er war Papst und durfte den Laien niemals 
in vollem Ernst die Gleichberechtigung mit den Priestern gewähren. Noch 
  
*) S. o. IV. 68.
	        
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