Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

736 V. 10. Vorboten der europäischen Revolution. 
verneur General Pfuel bekleidete sein jetzt so wichtig gewordenes Amt 
noch immer nur als ein Nebenamt neben seinem westfälischen Kom- 
mando und kam nur von Zeit zu Zeit herüber. Er sah seit Jahren 
richtig voraus, daß eine Versöhnung mit den fanatischen Luzerner Ultra- 
montanen unmöglich, eine Katastrophe unvermeidlich war 7), und konnte 
sich doch als Liberaler kein Herz fassen zu den konservativen Royalisten. 
Canitz aber lebte, wie sein König, ganz in den Berechnungen einer großen 
europäischen Restaurationspolitik, und über solchen erhabenen Plänen ver- 
gaß er das Nächste, die militärische Sicherung des gefährdeten Landes. 
Schon seit Jahren hatten die beiden deutschen Großmächte über einen 
möglichen Einmarsch preußischer Truppen hin und her verhandelt; Metter- 
nich aber kam immer wieder zurück auf den überklugen Satz: eines großen 
Krieges sind diese 80000 Neuenburger nicht wert, und ein kleines Korps 
hilft doch nichts.*) So unterblieb denn jede Rüstung; für die friedens- 
selige Politik dieses Königs war das Wort nicht geschrieben, daß um der 
Ehre willen selbst eines Strohhalms Breite verfochten werden muß. 
Die Neutralität des Kantons ließ sich von Rechts wegen gar nicht 
anfechten; sie ward auch von den altehrwürdigen Kommunalverbänden 
des Landes, den vier Bourgeoisien gut geheißen mit der feierlichen Er- 
klärung, daß man sich von dem angestammten Fürstenhause niemals 
trennen wolle. Zur Teilnahme an einem Bürgerkriege, bei dem beide 
Teile das Recht offenbar verletzten, durfte der Fürst von Neuenburg 
rechtlich nie gezwungen werden; jetzt hieß es einfach: Not kennt kein Gebot. 
Eine Neutralität aber, die nicht durch die Waffen geschützt wird, ist lächer- 
lich, völkerrechtswidrig, eines Königs unwürdig. Und wie leicht konnte 
Friedrich Wilhelm, falls er nur die Augen offen hielt, seine Fürstenpflicht 
erfüllen! Wenn er seine Neuchateller Gardeschützen mit noch einigen an- 
deren Bataillonen rechtzeitig bereit hielt und im Augenblicke der Neutra- 
litäts-Erklärung alsbald einrücken ließ, dann war er seines unbestreitbaren 
Rechtes vollkommen sicher; er konnte dann je nach Umständen entweder sein 
Fürstentum wieder in die freiere Stellung eines zugewandten Orts zurück- 
treten lassen oder sich der neuen demokratisierten Bundesverfassung der Eid- 
genossen anschließen — was unter einigen Vorbehalten wohl möglich war, 
da der Fürst in Neuenburg ja nur sehr bescheidene Rechte ausübte. Die 
befreundeten Höfe von Darmstadt und Karlsruhe mußten seinen Truppen, 
wenn er es ernstlich verlangte, den Durchzug unweigerlich gestatten; nur 
weil Preußen nicht kräftig auftrat, zeigte sich auch Baden ängstlich. Selbst 
Frankreich, das unter anderen Umständen die Anwesenheit preußischer 
Truppen dicht vor seiner Grenze wohl ungern gesehen hätte, war als er- 
klärter Feind der Zwölfermehrheit jetzt nicht im stande, zu widersprechen. 
  
*) Pfuels Bericht an den König, 25. Juni 1845. 
**) Canitzs Berichte, 5. März 1845 ff.
	        
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