Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

70 V. 2. Die Kriegsgefahr. 
ihn zu erneuern schien unmöglich, da die Eifersucht der Westmächte längst 
erwacht war. Die friedliche Schutzherrschaft Rußlands in der Türkei ließ 
sich ja auch ohnedies behaupten, wenn man nur dem englischen Hofe und 
den beiden deutschen Mächten eine bescheidene Mitwirkung bei der Rettung 
des Sultans einräumte. Am Petersburger Hofe wünschte man die Macht 
des Ägypters also zu schwächen, daß er nie mehr hoffen konnte, als 
Hausmeier des Sultans das osmanische Reich von innen heraus zu ver— 
jüngen; man wollte ihn aber auch nicht ganz fallen lassen, weil sein 
halbselbständiger Staat doch immer ein Pfahl im Fleische der Türkei blieb. 
Seit der Schlacht von Nisib mußte auch Palmerston einsehen, daß man 
Mehemed Ali nicht vernichten konnte. Mithin bestand keine ernstliche Mei— 
nungsverschiedenheit zwischen den beiden Mächten; sie mußten sich nur noch 
verständigen über die beiden Fragen, welche Stücke syrischen Landes dem be- 
trogenen Sieger verbleiben, und wie die Großmächte im Notfalle ihre be- 
waffnete Einmischung ausführen sollten. Da Rußlands Streitkräfte durch 
die kaukasischen Kämpfe und einen Feldzug gegen Chiwa erheblich geschwächt 
waren, so wünschte Nikolaus im Augenblicke keinen europäischen Krieg; 
er hoffte vielmehr Frankreich friedlich zu besiegen, indem er sich erst mit 
England, dann mit den beiden deutschen Mächten vereinigte. 
Die Einladung zu der Wiener Konferenz lehnte er entschieden ab, 
weil er befürchtete, dort durch Osterreich und die Westmächte überstimmt 
zu werden. Metternich empfand diese Absage als eine schwere persfön- 
liche Beleidigung und erging sich in Schmähreden wider die Schwäche 
und die Torheit des Zaren — ganz wie im Jahre 1826, als sich Ruß- 
land und England über die griechische Frage verständigten. Auch dies- 
mal mußte er erfahren, daß in den orientalischen Händeln Rußland, nicht 
Osterreich die führende Macht des Ostbundes war. Im September 1839 
wurde einer der jüngeren russischen Diplomaten, Frhr. v. Brunnow nach 
London gesendet, ein sanfter, feiner, geschmeidiger Mann, der alsbald 
eine unbegrenzte Bewunderung für die Sitten der vornehmen Gesellschaft 
Englands zeigte, an ihrem Sport, ihren Bazaren und Wohltätigkeits- 
konzerten eifrig teilnahm. In der diplomatischen Welt hieß er der rus- 
sische Gentz; die Vergleichung traf freilich nicht zu, denn mit dem Geiste 
und der schriftstellerischen Größe des österreichischen Staatsmannes konnte 
er sich nicht von fern vergleichen, in den Künsten schlauer Unterhandlung 
war er ihm weit überlegen. Brunnow eröffnete dem britischen Minister: 
der Zar habe nichts dawider, wenn England durch seine Flotte den Agyp- 
ter zur Annahme eines billigen Friedens zwingen wolle, und würde dann 
nötigenfalls seine eigenen Truppen über Sinope durch Kleinasien gegen 
Ibrahim Pascha vorgehen lassen. Nicht ohne ein begreifliches Mißtrauen 
nahm Palmerston diese Anerbietungen entgegen; sie genügten ihm nicht, 
da ihm vor allem daran gelegen war, den Vertrag von Hunkiar-Iskelessi 
zu beseitigen, der britischen Flotte die Einfahrt durch die Dardanellen
	        
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