Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Brunnow in London. 71 
zu eröffnen. Gleichwohl hegte der Russe, als er unverrichteter Dinge ab— 
reisen mußte, die stille Uberzeugung, daß eine Verständigung wohl möglich 
sei. Auf der Heimkehr traf er am Rhein mit Metternich zusammen. Der 
Osterreicher zeigte sich mürrisch, übellaunig, sichtlich verletzt durch Ruß- 
lands einseitiges Vorgehen, aber in der Sache selbst nicht feindselig. Auch 
hier empfing Brunnow den Eindruck, die vier Mächte würden sich ohne 
Frankreich wohl einigen können, und Nesselrode sagte nachher befriedigt, 
mit diesem Johannisberger Gespräche sei die peinliche erste Epoche der 
orientalischen Frage abgeschlossen.?) 
In Petersburg mit neuen Weisungen versehen, kehrte Brunnow um 
Neujahr nach London zurück und überraschte den Lord durch die freund- 
liche Erklärung: sein Kaiser bestehe nicht mehr auf dem Vertrage von 
Hunkiar-Iskelessi, er wolle im Notfalle 15 000 Mann und acht Kriegs- 
schiffe zur Verteidigung Stambuls schicken, sei aber auch nicht dagegen, 
wenn die anderen Mächte dann je vier Schiffe in das Marmarameer 
sendeten. Zugleich ließ er durchblicken, was die russischen Diplomaten in 
Pera schon vorm Jahre angedeutet hatten: künftighin könnten vielleicht 
beide Meerengen in Friedenszeiten geschlossen werden. Damit war das 
Eis gebrochen, Palmerstons Mißtrauen beschwichtigt. Im Februar 1840 
vereinigten sich die Vertreter der großen Mächte in London zu förmlichen 
Konferenzen. Sie alle, mit einziger Ausnahme des französischen Gesandten, 
betrachteten die Erhaltung des osmanischen Reichs als ihre höchste Aufgabe 
und stimmten mit Brunnow darin überein, daß Mehemed Ali nur die erb- 
liche Herrschaft über Agypten, außerdem noch für seine Lebenszeit ein Stück 
Syriens, etwa das Paschalik Akkon behalten dürfte; widersetzte er sich, dann 
müßte man ihn durch die Waffen Europas zur Unterwerfung zwingen. Der 
Sieger sollte also einen Teil seines alten Besitzstandes dem Besiegten schen- 
ken! Die grobe Ungerechtigkeit dieses Schiedsspruchs der europäischen Mächte 
lag auf flacher Hand; selten hatte sich so deutlich gezeigt, mit wie wenig 
Weisheit die Welt regiert wird. Vom Rechte aber war in den schmutzigen 
orientalischen Händeln nie die Rede; hier handelte es sich nur um die Macht, 
diesmal um die Frage, ob Mehemed Ali stark genug sei, den erleuchteten 
Beschlüssen Europas zu widerstehen. Dergestalt hatte Rußland nochmals, 
wie einst vor der Schlacht von Navarin, durch eine plötzliche Annäherung 
an England die entscheidende Stellung in der orientalischen Politik erlangt. 
Metternich sah sich in die zweite Reihe gedrängt und meinte unmutig: 
nur die Germanen kennten den Begriff der Ehre, die Romanen über- 
trieben ihn bis zum point d'honneur, die Slawen hätten nicht einmal 
ein Wort dafür. Aber einer Staatskunst, welche die Erhaltung des türki- 
schen Reichs zu erstreben vorgab, konnte er unmöglich entgegentreten. 
Luch der Berliner Hof pflichtete den Anträgen Brunnows vorläufig bei, 
  
*) Liebermanns Bericht, 4. Jan. 1840.
	        
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