Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

76 V. 2. Die Kriegsgefahr. 
zu fünfen nicht weiter, so müsse man selbviert vorschreiten.) Die dritte 
Sonntagssitzung mußte verschoben werden, weil die britischen Minister 
noch keinen Beschluß gefaßt hatten. „Wir stehen auf Flugsand“ — sagte 
Bülow traurig. Guizot, der die Gefahr wohl ahnte, hielt sie doch nicht 
für nahe und verbrachte die kostbare Zeit in geistreicher Unterhaltung 
mit seiner plötzlich eingetroffenen russischen Freundin, der Fürstin Lieven. 
Der unschuldige Teil der vornehmen Gesellschaft glaubte, diese feine viel- 
gewandte Diplomatin, die beredsame Egeria der hohen Politik wollte ins- 
geheim für den Franzosen arbeiten. Wer moskowitische Verhältnisse kannte, 
mußte leicht erraten, daß sie mit Brunnow in Verbindung stand und den 
Auftrag hatte, jede Annäherung zwischen Guizot und Palmerston zu ver- 
hindern. 
Da faßte sich Bülow endlich das Herz zu einem entscheidenden Rat- 
schlag. Im Augenblicke besaß er nicht einmal eine gültige Vollmacht, da 
mittlerweile der Thronwechsel in Berlin eingetreten war; indes wußte er, 
daß der neue König noch friedlicher dachte als der alte, und sagte zu 
Neumann im Vertrauen: weil Preußen an Zwangsmaßregeln gegen 
Mehemed Ali niemals teilnehmen wird, darum fühle ich mich nicht ver- 
pflichtet, die anderen zurückzuhalten. Durch seinen langen Londoner Aufent- 
halt und die enge Freundschaft mit Palmerston hatte er sich in englische 
Anschauungen tiefer eingelebt, als einem Preußen geziemte; er betrachtete 
den Großtürken, nach der britischen Überlieferung, als heilig und hielt daher 
Frankreichs orientalische Politik, die doch ihre guten Gründe hatte, schlecht- 
hin für revolutionär. Demzufolge arbeitete der geistreiche Staatsmann, 
der in Petersburg des Liberalismus verdächtigt wurde, arglos der russi- 
schen Politik in die Hände; er half ihr die Westmächte zu entzweien, 
das osmanische Reich in einem Zustande hilfloser Schwäche vorläufig zu 
erhalten. Des ewigen Zauderns müde, wollte er endlich Taten sehen. 
Am 1. Juli, auf einem Lever der Königin zog ihn Lord Melbourne 
abseits und fragte ängstlich: Was raten Sie mir in der ägyptischen 
Sache? Bülow erwiderte: Habt Ihr genügende Streitkräfte im Mittel- 
meer? Auf die bejahende Antwort fuhr er lebhaft fort: Dann seid 
schnell und kühn! Sendet sofort die Flotte vor Alexandria, werfet die 
Truppen von Malta und den ionischen Inseln nach Beirut und an 
die syrische Küste, vo Mehemed Ali keinen Angriff erwartet. Vorher 
schließen wir hier zu vieren den Vertrag mit dem türkischen Gesandten 
ab, ohne die Ratifikationen abzuwarten. So wird Frankreich über- 
rascht und doch nicht unmittelbar beleidigt, der Pforte aber bleibt die 
gefährliche russische Hilfe erspart. But 1 say again, be quick and 
bold! — Bülow glaubte ganz sicher, Frankreich würde den ersten Arger 
bald überwinden und schließlich doch genehmigen, was nicht mehr zu än- 
  
*) Metiernich an Neumann, 24. 27. Juni 1840.
	        
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