76 V. 2. Die Kriegsgefahr.
zu fünfen nicht weiter, so müsse man selbviert vorschreiten.) Die dritte
Sonntagssitzung mußte verschoben werden, weil die britischen Minister
noch keinen Beschluß gefaßt hatten. „Wir stehen auf Flugsand“ — sagte
Bülow traurig. Guizot, der die Gefahr wohl ahnte, hielt sie doch nicht
für nahe und verbrachte die kostbare Zeit in geistreicher Unterhaltung
mit seiner plötzlich eingetroffenen russischen Freundin, der Fürstin Lieven.
Der unschuldige Teil der vornehmen Gesellschaft glaubte, diese feine viel-
gewandte Diplomatin, die beredsame Egeria der hohen Politik wollte ins-
geheim für den Franzosen arbeiten. Wer moskowitische Verhältnisse kannte,
mußte leicht erraten, daß sie mit Brunnow in Verbindung stand und den
Auftrag hatte, jede Annäherung zwischen Guizot und Palmerston zu ver-
hindern.
Da faßte sich Bülow endlich das Herz zu einem entscheidenden Rat-
schlag. Im Augenblicke besaß er nicht einmal eine gültige Vollmacht, da
mittlerweile der Thronwechsel in Berlin eingetreten war; indes wußte er,
daß der neue König noch friedlicher dachte als der alte, und sagte zu
Neumann im Vertrauen: weil Preußen an Zwangsmaßregeln gegen
Mehemed Ali niemals teilnehmen wird, darum fühle ich mich nicht ver-
pflichtet, die anderen zurückzuhalten. Durch seinen langen Londoner Aufent-
halt und die enge Freundschaft mit Palmerston hatte er sich in englische
Anschauungen tiefer eingelebt, als einem Preußen geziemte; er betrachtete
den Großtürken, nach der britischen Überlieferung, als heilig und hielt daher
Frankreichs orientalische Politik, die doch ihre guten Gründe hatte, schlecht-
hin für revolutionär. Demzufolge arbeitete der geistreiche Staatsmann,
der in Petersburg des Liberalismus verdächtigt wurde, arglos der russi-
schen Politik in die Hände; er half ihr die Westmächte zu entzweien,
das osmanische Reich in einem Zustande hilfloser Schwäche vorläufig zu
erhalten. Des ewigen Zauderns müde, wollte er endlich Taten sehen.
Am 1. Juli, auf einem Lever der Königin zog ihn Lord Melbourne
abseits und fragte ängstlich: Was raten Sie mir in der ägyptischen
Sache? Bülow erwiderte: Habt Ihr genügende Streitkräfte im Mittel-
meer? Auf die bejahende Antwort fuhr er lebhaft fort: Dann seid
schnell und kühn! Sendet sofort die Flotte vor Alexandria, werfet die
Truppen von Malta und den ionischen Inseln nach Beirut und an
die syrische Küste, vo Mehemed Ali keinen Angriff erwartet. Vorher
schließen wir hier zu vieren den Vertrag mit dem türkischen Gesandten
ab, ohne die Ratifikationen abzuwarten. So wird Frankreich über-
rascht und doch nicht unmittelbar beleidigt, der Pforte aber bleibt die
gefährliche russische Hilfe erspart. But 1 say again, be quick and
bold! — Bülow glaubte ganz sicher, Frankreich würde den ersten Arger
bald überwinden und schließlich doch genehmigen, was nicht mehr zu än-
*) Metiernich an Neumann, 24. 27. Juni 1840.