Durch das Land gehbt die Legende, Scheidemann sei doch
besser als sein Ruf. Welch edler Abgang! Um sein Wort
nicht zu brechen, um nicht zu unterschreiben, opfere er sein
Amt. Es fehlt nicht viel, so wird man noch sentimental.
Aber an dem Gerede, das Scheidemann eine Heldenpose
andichtet, ist kein wahres Wort. Er hat nicht den aufrechten
Mann des 12. Mai gespielt, der mit seinem „Unannehmbar“
stand und fiel. In der entscheidenden Sitzung des Kabinette,
dessen Mitglieder mit sieben zu sieben einander die Wage
hielten, hatte Scheidemann als Plattform den Kompromiß-
antrag des Zentrums gewählt: den Friedensvertrag zu
unterzeichnen unter der einzigen Bedingung, daß die
ehrenrührigen Paragraphen über die Auslieferung von
Deutschen, über unsere alleinige Schuld am Kriege, über
unsere moralische Unfähigkeit zum Kolonisieren gestrichen
würden. Alles andere zu schlucken war die Regierung bereit.
ODas Unerträgliche, das Unerfüllbare, das Unannehmbare war
für den Deklamator Scheidemann schon erledigt, er war zur
Unterschrift fertig, wenn der Vertrag nur, ohne im materiellen
Inhalt im geringsten gemildert zu sein, ein wenig sein Gesicht
verändern ließe.
Er kann nicht anders. Er kann gar nicht das Volk zum
letzten ehrenhaften „Nein!“ ohne Hörner und Zähne auf-
rufen, weil er wie überhaupt die gesamte Sozialdemokratie
seit einem Menschenalter etwa daran gearbeitet haben, jeden
Sinn für nationale Ehre im deutschen Volke zu ersticken. Die
Folgen dieser „Erziehungearbeit“ sehen wir vor uns. Bicht
erst im November 1918 ist Deutschlands Größe zertrümmert
worden, sondern schon seit Jahrzehnten hat der Umsturz mit
der Spitzhacke gewütet und die deutsche Moral erschlagen. Es
ist tief erschütternd, daß man erkennen muß: unser Volk hat
seine Deutschheit längst verloren, und seine Abgeordneten
werden deshalb so still, weil sie wissen, sie hätten doch keine
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