gestanden. Man sollte die Honoratioren einer Partei, die als
Persönlichkeit etwas bedeuten, nur die gelegentlichen, kurzen,
monumentalen Erklärungen verlesen lassen. Heute wäre ein
Volksredner nötig gewesen, ein Antonius an der Bahre
Cäsars. Ein Aufwirbler aller Leidenschaften, eine Posaune
des ZJüngsten Gerichts über Deutschlands Verderber. Daß
nicht nur die Hörer, sondern auch nachher die Leser bis ins
Mark erschüttert worden wären, sich die Rede ausgeschnitten
und für Kind und Kindeskinder unter dem Heiligsten auf-
bewahrt hätten. Dieser Aufschrei bleibt aus. Heute oder nie
wäre die Gelegenheit gewesen, das Panier für die Kommen-
den aufzupflanzen, die einst die deutschen Verräter stürzen
werden.
Aber mit lohender Beredsamkeit und hallendem Organ
füllt diesmal Professor Kahl die Lücke einigermaßen wieder
aus; etwas von dem verwegenen Feuer des ewigen Ger-
manenjünglings steckt in diesem Siebzigjährigen und gleich-
zeitig etwas von der hinreißenden sittlichen Kraft des Richters
und Propheten. Ohne Scheu tritt er vor den König Plebs
und ruft sein „Du bist der Mann 1“ ihm zu. Auch rein rhetorisch
ist seine Stufenfolge des wiederholten „Wir lehnen ab“ mit
der jedesmaligen Begründung noch wirkungsvoller ale einst
Zolas „Sch klage an“, ist so erschütternd, daß eine Abgeord-
nete des Zentrums, schwankend geworden und in tiefster
Seelennot, sich beim Nachbar Prälaten erst noch einmal Abso-
lution für die Abstimmung holt. Die Abstimmung für Unter-
schreiben natürlich. Denn in diesem Parlamente ist die deuts che
Ehre verloren, auch wenn Erzengel redeten.
Eine Fundgrube für kommende Geschichtschreiber, aber
auch für gegenwärtige Politiker, sind die Ausführungen des
Sozialdemokraten Loebe. Es scheint, daß auch er die Nerven
und den taktischen Verstand verloren hat. Bisher bieß es
doch immer, die Republik werde uns das goldene Zeitalter
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