sah, stiegen alle diese Gedanken mit doppelter Macht in mir auf,
da aber dachte ich an meine Einsegnung und an das Lied, welches
dabei gesungen worden war: „Ein feste Burg ist unser Gott“, und
die Zweifel und Gedanken verschwanden wie böse Gespenster oder
Spukgestalten.?
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Im Fürstenhof zu Kassel wäre es uns beinahe wie auf Schloß
Wernigerode ergangen. Erst nach langem Palaver zwischen dem empör-
ten Hinzpeter und dem Vortier, der zwei preußische Brinzen erwartete,
die wir doch unmöglich sein könnten, wurden wir endlich eingelassen.
Uberhaupt waren die Umstände unseres „Einzugs“ In Kassel so selt-
sam und eigenartig, daß ich es mir nicht versagen kann, hier aus
Hinzpeters Tagebuch die betreffende Stelle vom 12. September 1874
einzureihen. Sie dürfte auch hervorragend geeignet sein, den Geist
und die Gesinnung zu kennzeichnen, die meine ganze Erziehung be-
herrscht haben: -Wir zogen in Kassel ein unter eigentümlichen Formen,
im bewußten Gegensatz zu der Phantasie der Menge. MWir saßen
sehr vergnügt im Landwehrhagen in der Kegelbahn einer Fuhrmanns-
knespe, saures Bier und hartes Brot mit gesalzener Butter zu uns
nehmend. Es regnete dazu und sch hielt meinen Regenschirm über
das Frühstück, um das Bter nicht noch wäßriger werden zu lassen,
denn wir bedurften der Stärkung nach einem beschwerlichen Marsche.
Wir hörten dort das Pfeifen der Lokomotive und wußten daraus,
daß in diesem Moment der Kaiser im Triumph in Kassel einzog, im
bequemen Salonwagen, geehrt, geprlesen, gut dinierend, in vollem
Genuß der erworbenen Stellung nach der Arbeit des Lebens, während
Prinz Wilhelm hier ebenso dürftig gefrühstückt, mit müden Beinen
und leerem Magen in echter Weise des fahrenden Schülers nach
Kassel marschiert und in Kassel einzieht. Und diese Moralpredigt in
Wort und Tat findet vollen Beifall. Um nicht mit dem Kaiser in
Kassel zu sein, treiben wir uns In der Umgebung herum, finden mit
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