Full text: Kaiser Wilhelm II. Aus meinem Leben 1859-1888.

einstmals mit dem Lineal als direlte Verbindungslinie zwischen 
Moskau und Warschau nach der Karte gezogen hatte, sie berührte 
wenig Städte und fast gar keine Dörfer, so daß sie kaum benutzt 
wurde. 
In der kleinen Stadt Kilez wurde eine Futterpause für die Pferde 
eingelegt. Da das Wetter herrlich war, minus 7 Grad bei strahlen- 
dem Sonnenschein, war die gesamte Bevölkerung des Ortes auf den 
Beinen und umstand neugierig, doch ohne zudringlich zu sein, unseren 
Schlitten, dessen Verdeck zurückgeschlagen war. Die Männer trugen 
den üblichen großen russischen Bauernpelz, ihre faltigen, von großen 
blonden Bärten umrahmten Gesichter mit den hellblauen Augen er- 
innerten in gewisser Beziehung an Dürersche Apostelköpfe. Die 
Frauen waren durchweg kräftig und gut gebaut, am Oberkörper nur 
mit einem Hemde bekleidet, das die Arme frei ließ und bis zum 
Gürtel offen stand. Dieser hielt einen Rock zusammen, der etwa 
bis auf die halbe Wade reichte: Schuhe und Strümpfe waren an- 
scheinend unbekannte Luxusgegenstände. Als der Fürst den Leuten 
sagte, wer ich sei, nahmen die Bauern, sich tief verneigend, ihre 
Mützen ab. Die Frauen, soweit sie Kinder auf den Armen oder 
an der Brust hatten, traten an den Schlitten heran und reichten 
mir die Kleinen, damit ich sie streichle. Im Hintergrunde vergnügte 
sich indessen die Dorfjugend mit Herabrutschen von Schneehügeln, 
wobei ich manch kleines Geschöpf sah, das nur mit einem HOemd- 
chen bekleidet war und das Rutschen mit dem blanken Körper be- 
sorgte, so wie unsere Kinder es im Sommer auf den Sandhügeln 
an der See tun. Als ich mein Erstaunen über diesen Grad von 
Abhärtung aussprach, erwiderte der Fürst: „Alles Schwache, was 
dieses Leben nicht verträgt, geht ein. Wer durchkommt, ist derart 
abgehärtet, daß er alles vertragen kann.“ 
Abends trafen wir in Nadziwillmonte ein, wo uns ein behag- 
lich gewärmtes Quartier aufnahm. Erst am Nachmittag des nächsten 
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