Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
III. Buch. Välkerrecht. 65 
  
einer höheren Gewalt nicht unterstehen, sie haben keinen Gesetzgeber und keinen Richter 
über sich. Allerdings sind die zur völkerrechtlichen Gemeinschaft gehörenden Staaten an 
die Vorschriften des Bölkerrechts gebunden; diese Vorschriften beruhen aber nicht auf 
Gesetzen, die von einer über den Staaten stehenden höheren Gewalt gegeben sind, 
sondern auf dem Herkommen, das sich in der völkerrechtlichen Gemeinschaft, der 
Rechtsüberzeugung der Mitglieder dieser Gemeinschaft entsprechend, gebildet hat, oder 
auf den von den Staaten selbst getroffenen Vereinbarungen, denen sie sich freiwillig 
unterwarfen. 
Wie über den Staaten keine gesetzgebende Gewalt steht, so sind sie auch keiner 
Gerichtsbarkeit unterworfen, die im Namen und Auftrage einer höheren Gewalt befugt 
wäre, Streitigkeiten unter den Mitgliedern der völkerrechtlichen Gemeinschaft zu ent- 
scheiden. Derartige Streitigkeiten können von den Beteiligten gütlich beigelegt werden. 
Eine Art der gütlichen Beilegung besteht darin, daß sich die streitenden Staaten 
darüber einigen, ihren Streit durch ein von ihnen bestelltes Schiedsgericht, das seine 
Gerichtsbarkeit lediglich aus dem Willen der Streitsteile herleitet, entscheiden zu lassen 
und dann dessen Entscheidung freiwillig vollziehen. 
Gelingt die gütliche Beilegung des Streites nicht, so bleibt den Streitsteilen nur 
der Weg der Selbsthilfe offen. Sie können versuchen, den Gegner durch Retorsionen 
oder Repressalien zur Anerkennung ihrer Ansprüche zu veranlassen. Außersten Falles 
haben die Streitsteile nur die Möglichkeit, ihre Rechte oder Interessen durch Waffengewalt, 
also durch Krieg zur Geltung zu bringen, der sich als der bewaffnete Kampf zwischen zwei 
oder mehreren Staaten darstellt und ebenso unter Rechtsregeln steht, wie der fried- 
liche Verkehr unter den Staaten. 
Die Grundlage des Völkerrechts bildet auch gegenwärtig noch die Souveränität 
der Staaten und die sich daraus ergebende Unabhängigkeit und grundsätzliche Gleich- 
berechtigung der Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft. Als zweites die Ent- 
wicklung des Völkerrechts beeinflussendes Element kommt aber das Bewußtsein der 
Gemeinsamkeit vieler Interessen unter den Mitgliedern der völkerrechtlichen Gemein- 
schaft in Betracht ½. 
Dieses Gefühl hat im verflossenen Jahrhundert bewirkt, daß eine große Anzahl 
die gemeinsamen Interessen regelnder Vereinbarungen unter den Mitgliedern der 
völkerrechtlichen Gemeinschaft abgeschlossen worden ist, die das Völkerrecht nach ver- 
schiedenen Richtungen ausgebaut haben. 
Alle diese Vereinbarungen haben aber den Grundsatz der Souveränität der Staaten 
nicht beseitigt, sie setzen ihn vielmehr voraus. Eine Antastung dieses Grundsatzes wäre 
nur dann gegeben, wenn es gelingen würde, alle zur völkerrechtlichen Gemeinschaft 
gehörigen Staaten in eine, ihre Mitglieder in der Souveränität beschränkenden, wenn 
nicht dieselbe ganz aufhebenden Weltföderation zu vereinigen. 
1) Ullmann, a. a. O. S. 8S. 
21 321.
	        
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