Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
62 Malerei und Plastik. XlI. Buch. 
  
zuwollen. Nach den Lehren der Kunstgeschichte kann eine allgemeine Freude an der 
körperlichen Erscheinung wie an der körperlichen Kraft bei vorhandenem Trieb zur 
Plastik und eine angemessene Verbindung der Skulptur mit der Baukunst, bei Aner- 
kennung der beiderseitigen Rechte, die Hoffnung erfolgreicher Entwicklung zu einer stil- 
sicheren Bildhauerei als berechtigt erscheinen lassen. Beide Grundbedingungen dürften 
heute, kaum bestreitbar, vorhanden sein. 
* * # 
Verfallzeit oder Kunstblüte? Obwohl es richtig ist, daß die Geschichte erst 
50 Zahre nach rückwärts in der Zeitenrechnung 
beginnt, und niemand, der mitten in der Fülle der Ereignisse steht, obiektiv ein Urteil 
fällen kann, so will ich doch nicht ganz der vielmals umstrittenen Frage ausweichen, ob 
sich unsere künstlerische Entwicklung in aufsteigender oder abfallender Linie bewegt. Die 
Antwort muß vorwiegend von allgemeinen Erwägungen aus erteilt werden. Es ergibt sich 
hierbei sofort eine Wahrnehmung, die meiner Ansicht nach von bedeutender Tragweite ist. 
Es ist eine unbezweifelbare Tatsache, daß zu einer sogenannten Verfallzeit — tatsächlich 
gibt es eine solche bei einem Stande der Kultur, wie wir sie erreicht haben, überhaupt 
nicht — das Beharren bei einer glücklich gefundenen Form gehört. Die Zeugnisse, die wir 
uns haben geben können, sprechen im Gegensatze hierzu von kraftvollem und von un- 
ablässigem Suchen nach neuen künstlerischen Ausdrucksmitteln. Allerdings beweist emsige 
Tätigkeit für sich allein noch nicht, daß wirklich beachtenswerte Fortschritte gemacht 
werden. Der vielgeschäftige Dilettantismus ist bekannt genug, und es läßt sich sehr 
wohl auch für unsere künstlerische Arbeit ein hier und da etwas bedenkliches Uberall- 
binblicken und -hingreifen feststellen, aber angesichts der Stetigkeit in der Fortführung 
der maßgebenden Grundlinien in der Malerei wie Plastik dürfen wir trotzalledem be- 
rechtigterweise von fruchtreichen und von fruchtbringenden Erfolgen reden. Es gehört 
ferner zu den Glaubenssätzen aller Kulturgeschichte, daß die Künstler am innigsten mit dem 
Wesen ihrer Zeit verbunden sind. Wohin wir aber in unserem Vaterlande blicken, nirgendwo 
macht sich das leiseste Anzeichen von faulem Genießen und Beharren geltend, sondern 
überall herrscht an den in Frage kommenden Stellen ein von dem klaren Wollen und 
der zielsicheren Kraft des Mannes geleitetes Vorwärtsdrängen zu der uns gebührenden 
Stellung. Und da sollten gerade die Künstler direktionslos herumirren, ausgeschieden 
sein aus diesem weiten Kreise zielbewußt und erfolgreich schaffender Männer? Das 
erscheint mir geradezu widersinnig. Es kann meiner Ansicht nach auch gar keinem Zweifel 
unterliegen, daß wir in ganz Deutschland sowohl über eine sehr große handwerkliche 
Ausbildung als auch über eine bedeutende Summe an lebenstarker künstlerischer Kraft 
verfügen. Unablässig werden mit der Hingabe der ganzen Persönlichkeit neue Probleme 
in der Malerei wie in der Plastik auf- und angegriffen, von denen eine große Anzahl 
schneller oder langsamer das Laienpublikum anzuziehen vermag. Auch die Tatsache, 
daß die Zahl der Ankäufe von Werken der bildenden Kunst in unserem Vaterlande ständig 
wächst, und daß sie aus den entlegensten Gegenden beordert werden, spricht für die 
  
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