490 Völkerrechtliche Lehre
füllung der Vorbedingung, nämlich der Gegenseitigkeit, in .der
Regel fehlt.
2.
Der gegenwärtige Stand der Lehre.
Nicht viel weniger Raum, als das positive Recht der ver-
schiedenen Staaten in Anspruch nimmt, erfordert die Darlegung
der Ansichten der Theoretiker über das Asylrecht und was damit
zusanımenhängt. Diess aber sowohl desswegen, weil manche
Meinungsverschiedenheiten unter Denen, welche sich aussprechen,
bestehen; als weil die einschlagenden Fragen in verchiedenen
Rechtstheilen behandelt werden.
Eine Uebersicht wird ohne Zweifel am leichtesten gewonnen,
wenn die Frage in ihre hauptsächlichsten Bestandtheile aufgelöst,
und dann in Beziehung auf jeden dersefben das Betreffende mit-
getheilt wird. Demgemäss wird denn im Folgenden
a) vor Allem dargelegt werden, welche Ansichten ‚bestehen
über den Umfang der Rechtsaufgabe des Staates überhaupt.
Hierauf mag dann zu den Einzelnheiten übergegangen und zu-
nächst
b) erörtert werden, welche Sätze hinsichtlich des Rechtes,
beziehungsweise der Pflicht, des Staates bestehen, zum Schutze
der Rechtsordnung anderer Staaten vorbeugende Maassregeln zu
ergreifen. Hieran reiht sich
c) die Darlegung der Lehren über die Zuerkennung von
Strafen wegen der Verletzung fremder Staaten. Endlich
d) sind die Meinungen über das Recht und über die Pflicht
des Staates, fremden Unterthanen Aufenthalt und Schutz gegen
Verfolgung ihrer Regierungen zu geben, darzustellen ').
1) Mit Vorbedacht ist hier die Frage : ob der Staat eigene Unterthanen,
welche im Auslande Verbrechen gegen ihn selbst oder gegen Mituntertbanen
begangen haben, bei späterer Habhaftwerdung zu bestrafen berechtigt und
schuldig sei? übergangen, weil dieser Fall die Rechtsverhältnisse verschie-
dener Staaten zu einander nicht berührt, sondern nur die Ausdehnung der
Staatsgewalt und ihrer Gebote für die eigenen Angehörigen betrifft. Die
Frage ist somit bei der Untersuchung der völkerrechtlichen Lehre von keiner
Bedeutung.