Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1281 Hörigkeit usw. 1282 
verwendete Leibeigene zu verstehen sind. — Im ward den fast 20 Millionen Bauern der Staats- 
allgemeinen gestaltete sich die Lage der ackerbau= domänen eine Organisation gegeben, welche den- 
treibenden Bevölkerung infolge dieser fortschrei= selben das Recht der Selbstverwaltung der Ge- 
tenden persönlichen Befreiung günstiger. Die meinden gewährte, welch letztere in Rußland einen 
größere Unabhängigkeit spornte zur Entwicklung unter die Gemeindeglieder nach einem Turnus 
der individuellen Fähigkeiten an, und die Aussicht zur Nutznießung zu verteilenden Landbesitz haben. 
auf den Genuß der Früchte des eigenen Fleißes 
war ein Antrieb zur Arbeit. So hat sich jene 
arbeitsfreudige und mäßige Landarbeiterschaft ge- 
bildet, welche in einzelnen Teilen Italiens als 
Kleingrundbesitzer, in andern, wie in Toskana,, 
Umbrien, Ligurien, als Halbpächter besteht. In 
andern Fällen, wie namentlich auf den Latifundien 
der Lombardei, hat die persönliche Befreiung der 
Landbevölkerung, welcher nicht genügende Maß- 
regeln zum Schutz der wirtschaftlichen Existenz der 
Emanzipierten zur Seite gingen, die Proletari- 
sierung der früher zwar unfreien, aber vor Not 
geschützten Bevölkerung zur Folge gehabt. 
Wenn genuesische Gesetze noch im 16. Jahrh. 
von einem eigentlichen Sklavenverhältnis redeten, 
von dem Diebstahl von Sklaven handelten, den 
Verkauf solcher nach Agypten verboten usw., so 
ist in diesen Fällen sicher nicht von Leibeigenen 
die Rede, sondern es handelt sich da offenbar 
um Ungläubige, um Kriegsgefangene aus den 
Barbareskenstaaten und andern moh danisch 
Ländern oder um aus diesen fortgeschleppte Ein- 
wohner, nicht aber um eingeborene Christen. Es 
müssen also solche Reste barbarischer Sitten auf 
Rechnung der damaligen grausamen Kriegfüh- 
rung zwischen Christen und Mohammedanern, 
deren Schuld ganz überwiegend den letzteren bei- 
zumessen ist, gesetzt werden; denn die gesamte ein- 
schlägige Gesetzgebung und Rechtsentwicklung der 
romanischen Länder ging auch noch am Ende des 
Mittelalters auf die Befreiung der einzelnen von 
den Banden persönlicher Abhängigkeit hinaus 
und beseitigte auch bis auf wenige, allerdings 
sehr harte und an die schlimmsten Zeiten der an- 
tiken Unfreiheit erinnernde Reste die Überbleibsel 
sowohl der Leibeigenschaft als der Hörigkeit. 
3. In England war die Liibeigenschaft 
bereits zu Zeiten Eduards VI., in der Mitte des 
16. Jahrh., erloschen, und zwar durch gewohn- 
heitsrechtliche Fortbildung. 
4. Am längsten hielt sich die Leibeigen- 
schaft in Rußland. Sie bildete dort die 
Grundlage der agrarischen Organisation, und 
ihre Verhältnisse waren aus dem alten slawischen 
Gemeinbesitz des Grund und Bodens erwachsen, 
den auch die unter Peter dem Großen erst zur 
vollen Ausbildung gelangte Leibeigenschaft nicht 
ganz zu vernichten vermochte. Wie tief die 
Stellung der Leibeigenen noch am Ende des 
18. Jahrh. war, ergibt sich daraus, daß ihnen 
Kaiser Paul im Jahre 1797 die Erleichterung 
verschaffen mußte, daß sie an Sonntagen zu keiner 
Arbeit von ihren Gutsherren gezwungen werden 
konnten. Ein großer Fortschritt fand dann aber 
  
  
unter Kaiser Nikolaus I. (1825/55) statt: es 
Staatslexikon. II. 3. Aufl. 
Noch wichtiger aber war der Ukas von 1842, 
welcher den Gutsherren erlaubte, mit ihren Leib- 
eigenen Verträge über ihre Leistungen an Fronden, 
Naturalien oder Geld abzuschließen, die Unfreien 
demnach rechtsfähig machte. Daran schlossen sich 
ein Ukas von 1847, welcher der leibeigenen Ge- 
meinde das Recht verlieh, die zu öffentlicher Feil- 
bietung gelangenden Liegenschaften ihres Leibherrn 
anzukaufen, und ein solcher von 1848, der auch 
den einzelnen Leibeigenen das Recht zusprach, 
Grundbesitz zu erwerben. Das alles, wie auch 
die bereits unter Alexander I. (1801/25) erfolgte 
Aufhebung der Leibeigenschaft in den Ostsee- 
provinzen war aber nur das Vorspiel zu Wich- 
tigerem, nämlich zu dem Manifest Alexanders II. 
(1855/81) vom 19. Febr. (3. März) 1861 und 
dem diesem angehängten Statut, wodurch die 
näheren Bestimmungen in betreff der Emanzi- 
pation aller Leibeigenen des gewaltigen Reiches 
getroffen wurden und eine Periode zum Teil 
schlimmster Bedrückungen ihr Ende fand, wenn 
auch manche übereilte Maßregeln das materielle 
Wohl der Freigelassenen nicht genügend gegen 
deren eigene Unerfahrenheit sicherten. 
Literatur. Allgemeine Werke: Eichhorn, 
Deutsche Staats= u. Rechtsgesch. (5 1844); F. Wal- 
ter, Deutsche Rechtsgesch. (1857); G. Phillips, 
Deutsche Reichs= u. Rechtsgesch. ((1859); v. Schulte, 
Deutsche Reichs= u. Rechtsgesch. (1881); Waitz, 
Verfassungsgesch, (8 Bde) I (31880) II (31882) 
III (21883) IV (21885) V (21893, hrsg. von 
Zeumer) VI (21896, hrsg. von Seeliger); Fustel 
de Coulanges, LDralleu et le domaine rural (2 Bde, 
1888/89); Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben 
im Mittelalter (4 Bde, 1886); v. Inama-Sternegg, 
Deutsche Wirtschaftsgesch. (4 Bde, 1879,1901); 
Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I (21906); R. 
Schröder, Lehrb. der deutschen Rechtsgesch. (5 1907) 
u. die dort S. 430, 444 u. 815 f angeführte Literatur. 
Spezialuntersuchungen: Kindlinger, 
Gesch. der dtsch. H., insbes. der sog. Leibeigenschaft 
(1819); Frhrv. Fürth, Die Ministerialität (1836); 
Zallinger, Ministeriales u. Milites (1878); Sugen- 
heim, Die Aufhebung der Leibeigenschaft u. H. in 
Europa (1861); Boos, Liten u. Aldionen nach den 
Volksrechten (Gött. Diss., 1874); Jastrow, über 
das Eigentum an u. von Sklaven nach den dtsch. 
Volksrechten, in Forschungen zur dtsch. Gesch. XIX 
626 ff; derf., Zur strafrechtl. Stellung der Sklaven 
bei Deutschen u. Angelsachsen, in Gierkes Untersu- 
chungen II (1878); R. Sohm, Die liberti der alt- 
german. Zeit, in Zeitschrift der Savigny-Stiftung 
für Rechtsgesch., Germ. Abt. Bd 21; K. Schmidt, lus 
primae noctis (1881); Stock, Die Freilassung im 
Zeitalter der Volksrechte (Hall. Diss., 1881); H. 
Brunner, Die Freilassung durch Schatzwurs, in den 
Histor. Aufsätzen für Waitz (1886); K. Köhne, Die 
Geschlechtsverbindungen der Unfreien im fränkischen 
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