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Gewissen rechtfertigen oder er will auf die öffentliche Meinung,
insbesondere die seiner Unterthanen, wirken; in beiden Fällen er-
kennt er die moralische Macht des Rechtes an. Diese moralische
Macht wird sich aber auch im wirklichen Leben bethätigen: der
Usurpator, der weiß, daß er ein Usurpator ist, wird nie das Ge-
fühl der Unsicherheit verlieren und deshalb in der Regel bald auf-
reizende Strenge, bald den Widerstand ermuthigende Schwäche zei-
gen 21); die Unterthanen, wenn sie auch der Gewalt sich beugen,
können doch durch Vorenthaltung jeder freiwilligen Unterstützung
der Staatsgewalt bedeutende- Hindernisse entgegensetzen, im Falle
auswärtiger Gefahren selbst zu aktivem Widerstande übergehen, oft
auch in Friedenszeiten eine Restauration durchführen; die fremden
Staaten können durch Verweigerung des völkerrechtlichen Verkehrs
mit dem usurpatorischen Herrscher oder durch positiven Beistand den
legitimen Souverain unterstützen. Für Alle aber, welche das Recht
hoch halten, ist es von Wichtigkeit, zu wissen, wann sie zum Ge-
horsam oder zur Anerkennung rechtlich verpflichtet und namentlich
wann sie von ihren rechtlichen Verbindlichkeiten gegen den früheren
legitimen Herrscher frei geworden sind. Dies gilt auch für Diejenigen,
welche mit dem Verfasser dieser Schrift darin übereinstimmen, das
Recht nicht als die unbedingt höchste sittliche Idee aufzufassen, und
daher Verhältnisse anerkennen, in denen ein Bruch des positiven
Rechts als sittlich gerechtfertigt oder gar geboten erscheint; ihnen
ist es nichtsdestoweniger für ihre moralische Berechnung und Hal-
tung von Werth, zu wissen, ob es sich um Verletzung eines Rechts,
das an und für sich Achtung verdient, handelt, oder ob kein zu be-
rücksichtigendes Recht vorliegt. Endlich kann die Frage, ob und
wann eine usurpirte Staatsgewalt legitim geworden ist, in ihren
juristischen Consequenzen zu einer ungeschmälerten praktischen Gel-
21) „Ces prétendues dynasties nouvelles sont aussi orageuses qdue les
factions, ou aussi oppressives due la tyrannie. GCest I’anarchie de Po-
logne, ou le despotisme de Constantinople. Souvent c'est tous les deux"“,
schrieb Benjamin Constant in seinem berühmten Aufsatz „De TEsprit de Con-
qduste et de PUsurpation dans leurs rapports avec la civilisation Euro-
péenne“ (CTours de politique constitutionelle par E. Laboulaye, II, S. 187).
Wie er aber bei dieser Schilderung nur die im Widerspruch mit dem Volkswunsch
zur Macht gelangten neuen Fürsten vor Augen hat, so kann er auch nur in die-
ser Beschränkung mit Wahrheit sagen (I. o. S. 275): „Un peuple sait quand
’est un usurxpateur qui le gouverne: un gouvernement sait quand il est
usurpateur.“