98 Wilnelm Kahl, Staat und Kirche.
kirchliche und religiöse Vereine sowie über geistliche Orden und Kongregationen durch $ 24 des
deutschen Reichsvereinsgesetzes vom 19. April 1908 ausdrücklich aufrecht erhalten wurden. Re-
ligionsgesellschaften, welche Korporationsrechte noch nicht besitzen, können solche nach Art. 13 der
Preussischen Verfassung nur im \Wege der Gesetzgebung erlangen. Alle kraft des Reformationsrechts
aufgenommenen Religionsgesellschaften geniessen Kultusfreiheit. In der Art ihrer Betätigung be-
steht freilich nach deutschem Recht immer noch eine bemerkenswerte Abstufung. In Preussen
haben nach Art. 12 der Verfassung alle Religionsgesellschaften das Recht der freien öffentlichen
Religionsübung. In Bayern dagegen besitzt eine Religionsgesellschaft, welche nicht ausdrücklich
„als öffentliche aufgenommen“ ist, nur die freie Ausübung des ‚Privatgottesdienstes“, d.h. es sind
ihr die Zeichen der Öffentlichkeit des Kultus, Kirchengebäude, Glocken u. a., versagt. Diese Be-
schränkung ist ein rückständiger Rest aus dem Staatskirchenrecht des Westfälischen Friedens.
Die Beschränkungen der Kultusfreiheit, welche sich aus den Bedürfnissen der staatlichen Sicher-
heits- und Paritätspflege notwendig machen, werden unter Z. 4 zu erwähnen sein.
3.DerGrundsatzdermateriellen SelbständigkeitderKirchen-
und Religionsgesellschaften in ihren inneren Angelegenheiten.
Diese Selbständigkeit ist ein Fundamentalprinzip des Systems der Kirchenhoheit. Die Ordnung
und Erhaltung des inneren Rechtslebens der Religionsgesellschaften ist das vorbehaltene Gebiet
der Kirchengewalt. Nach dem Wesen der Sache gehört zu den rein inneren Angelegenheiten in
erster Linie alles, was irgendwie Bestandteil von Lehre und Dogma ist. Jede Kirchen- und Religions-
gesellschaft folgt hierin den Bedingungen ihrer eigenen geschichtlichen Entwickelung und ihrer
Auffassung vom Wesen der menschlichen Freiheit im Verhältnis zu Gott. Insbesondere ist hiernach
die volle Freiheit der kirchlichen Lehrgesetzgebung von staatlicher Beeinflussung in Anspruch zu
nehmen. Dies gilt nicht nur im Verhältnis zur katholischen Lehrentwickelung durch die Dogmen
der ökumenischen Konzilien und ex cathedra-Entscheidungen der Päpste, sondern auch im Ver-
hältnis zur evangelischen Kirche; der hier auf die kirchliche Lehrgesetzgebung ausgeübte Einfluss
des Landesherrn beruht nicht auf dem Titel der Kirchenhoheit des Staats, sondern auf dem geschicht-
lichen Grunde der landesherrlichen Kirchengewalt. Als Annex der Lehre gehören zu den rein inneren
Kirchenangelegenheiten ferner Kultus, Liturgie und religiöser Unterricht. Endlich auch die Kirchen-
regierung in ihren spezifisch internen Funktionen. Die materiell kirchliche Selbständigkeit äussert
sich in all diesen Beziehungen darin, dass der Staat keinerleiaktuelleMitwirkung
in Anspruch nimmt. Er ist im äussersten Falle darauf beschränkt, staatsgefährliche Einflüsse von
Lehre und Kultus auf das bürgerliche Gebiet abzuwehren. Das notwendige Korrelat zu diesem
Grundsatze ist andererseits der Grundsatz derrechtlichen Unterordnungder Kirchen-
und Religionsgesellschaften unter den Staat in allen rein weltlichen Angelegenheiten. Hier
verfügt der Staat allein, wie er allein auch darüber Bestimmung trifft, was zum Gebiete der rein
weltlichen Angelegenheiten gehört. In dieser Grenzregulierung liegt der am tiefsten führende
Wesensunterschied der Systeme der Kirchenhoheit und des Staatskirchentums. Dieses zog unter-
schiedslos alles Kirchliche und Religiöse in den Bereich der Staatskompetenz. Das System der
Kirchenhoheit scheidet sorgfältig die dem Wesen des Staats grundsätzlich fremden Gebiete aus und
reserviert für dessen Zuständigkeit nur das, was den ureigenen Zwecken und Aufgaben des Staates
entspricht. Es unterscheidet sich darin in entgegengesetzter Richtung zugleich vom System des
Kirchenstaatstums, welches unterschiedslos und grundsätzlich das gesamte bürgerliche und öffent-
liche Recht der kirchlichen Beherrschung unterzog. Das System der Kirchenhoheit schliesst die
Herrschaft des kanonischen Rechts im Staatsleben aus.
4. Der Grundsatz der Staatsaufsichtin den gemischten Ange
legenheiten. In diesem Anspruch liegt, wie vorgreifend schon hier bemerkt werden soll, einer
der wesentlichen Gegensätze zu der Trennung von Kirche und Staat. Unter gemischten Angelegen-
heiten sind solche zu verstehen, welche an sich wohl zu den Funktionen der Kirchenregierung ge-
hören, gleichwohl aber tatsächliche und darum unvermeidlich auch von der Rechtsordnung zu
respektierende Beziehungen zum Staate, zur Gesellschaft, zur gesamten bürgerlichen Ordnung in
sich tragen. Dadurch entsteht der Unterschied der sacra externa von der sacra interne.