Full text: Deutsches Kolonialblatt. XVIII. Jahrgang, 1907. (18)

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Daß Deutschland erst 400 Jahre nach der 
Entdeckung Amerikas in die Reihe der koloni- 
sierenden Völker eingetreten und sein überseeischer 
Besitz deshalb geringer ist als derjenige der 
Engländer oder Franzosen, daran trägt derselbe 
Geist die Schuld, der jetzt die Mittel für eine 
kraftvolle Kolonial= und Machtpolitik verweigert. 
Die am lautesten die angebliche Wertlosigkeit 
unserer Kolonien verkünden, sind deshalb am 
wenigsten berechtigt, sich darauf zu berufen. 
Jede Kolonisation bedingt ein Zusammen- 
wirken privater Tatkraft und kollektiver Macht- 
entfaltung, und von Anfang an ist der Wettkampf 
um die nenu entdeckten Gebiete des bewohnbaren 
Erdballes eine Sache der großen Nationalstaaten 
gewesen, die sich gerade in diesem Kampfe zu 
straffen Einheiten zusammenschlossen. Die Deutschen 
dagegen verharrten, wie ihre Schicksalsgenossen, 
die Italiener, in den vom Mittelalter über- 
kommenen kommunalen und landschaftlichen Lebens- 
formen, in politischer Zersplitterung und Parteiung. 
So und nicht anders ist es gekommen, daß die 
beiden im Zeitalter der Entdeckungen höchst- 
entwickelten und reichsten Bölker Enuropas, die 
einzigen, die es im Mittelalter verstanden hatten, 
durch Kolonisation ihre Herrschaft auszubreiten — 
von jenem Wettkampf einfach ausgeschlossen blieben. 
Es ist aber großen VBölkern nicht vergönnt, 
als unbeteiligte Zuschauer zur Seite zu stehen, 
wenn sich weltgeschichtliche Umwälzungen voll- 
ziehen. Hier gilt der Satz, daß, wer nicht 
Hammer sein will, zum Amboß wird. In der- 
selben Zeit, als England den Grund zu seinem 
Weltreich legte, als andere Staaten ihrem Volks- 
tum weite Gebiete errangen, ward Deutschland 
zum meistmißhandelten Lande Europas. Soll ich 
daran erinnern, wie seine blühenden Gefilde 
immer wieder der Verwüstung anheimfielen, wie 
seine Flußmündungen in fremde Hände gerieten, 
das reiche Erbe Lübecks auf Amsterdam und bald 
auf London überging? In den verarmten 
Städten verkamen Handwerk und Kunst, die ost- 
und süddeutschen Bauern verfielen der Herrschaft 
lokaler Gewalten, der Leibeigenschaft. Armut, 
Philistertum und Unfreiheit auf der einen, Klassen- 
dünkel auf der andern Seite wurden zum Merk- 
mal deutschen Lebens. Es war die Zeit ge- 
kommen, in der Wohlstand und Freiheit nur 
noch unter dem Schutze starker Staaten zu ge- 
deihen vermochten. 
Wie der Ausschluß Deutschlands von der 
Teilnahme an der neuen Welt, so ist sein endlicher 
Eintritt in die koloniale Tätigkeit eine Folge 
seiner aus Kampf und Sieg hervorgegangenen 
Einigung und der glänzenden Entwicklung ge- 
wesen, welche die geeinigte Nation mit ihrem 
Außenhandel, ihrer Industrie und Schiffahrt 
  
  
rasch an die Spitze der europäischen Festlands- 
staaten führte. Denn das wachsende Bewußtsein 
der eignen Kraft und des eignen Wertes ließ es 
schmerzlich empfinden, daß Millionen und aber 
Millionen unserer besten Bürger, die als Kolonisten 
hinauszogen, in fremde Nationen aufgingen 
und deren Reiche bauen halfen, daß überall der 
deutsche Kaufmann und Unternehmer draußen als 
Fremdling an zweiter Stelle stand, daß er in 
unzivilisierten Ländern eines kräftigen Schutzes 
und unsere Kriegsflotte eigener Stützpunkte ent- 
behren mußte. Als deshalb zu Anfang der 
80er Jahre hansische Kaufleute Schutz für ihre 
Niederlassungen an der afrikanischen Westküste 
und in Polynesien begehrten, und bald der An- 
trag einiger unternehmender junger Leute um 
Anerkennung ihrer Gebietserwerbungen in Ost- 
afrika folgte, war es ein notwendiger Ausdruck 
nationalen Ehrgefühls, daß Fürst Bismarck diesem 
Verlangen stattgab. Was die nationale Ehre 
gebot, ist dann mehr und mehr als eine politische 
und wirtschaftliche Notwendigkeit erkannt worden, 
als eine wahre Lebensfrage für Deutschland. 
Denn die Wandlungen der Verkehrstechnik 
haben im 19. Jahrhundert alle Maßstäbe erweitert, 
welche an die territoriale Grundlage nationaler 
Staatenbildung und Wohlstandsentwicklung zu 
legen sind. Das Zeitalter, dem die Nationalstaaten 
Europas und ihre Kämpfe untereinander ihren 
Stempel aufdrückten, geht seinem Ende entgegen. 
Die rasche Besiedlung von bisher nur an den 
Rändern besetzten, nun aber durch die Eisenbahnen 
im Innern aufgeschlossenen großen Kontinenten, 
die Besiedelung Nordamerikas, der La Plata- 
Gebiete, Sibiriens, Kaplands usw., hat den 
Schwerpunkt der Bevölkerungsvermehrung euro- 
päischer Rassen bereits außerhalb Europas ver- 
legt. Wir sehen wahre Weltreiche entstehen, 
welche mit Hilfe der Eisenbahnen, Dampfschiffe 
und Telegraphen ganze Erdteile und weit zer- 
streute Dependenzen der Herrschaft einheitlicher, 
politischer und wirtschaftlicher Systeme unterwerfen, 
Staaten, die entweder schon jetzt mehrere hundert 
Millionen Einwohner zählen, oder doch in abseh- 
barer Zeit zählen werden. 
Sie alle sehen wir in starker Ausbreitung be- 
griffen und schwere Kriege nicht scheuen, um neue 
Territorien ihrer Herrschaft anzugliedern. Die 
außerordentliche Macht der neuen Weltreiche, an 
ihrer Spitze die Vereinigten Staaten, liegt nicht 
lediglich in der großen Volkszahl, sondern in der 
erstaunlichen Fülle und Mannigfaltigkeit ihrer 
natürlichen Reichtümer, sie sind weniger als die 
anderen auf deren Ergänzung durch Einfuhr von 
außen her angewiesen. Das Maß der Unab- 
hängigkeit aber bestimmt die Stellung eines Landes 
in der Welt. So steht die staatliche und wirt-
	        
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