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Daß Deutschland erst 400 Jahre nach der
Entdeckung Amerikas in die Reihe der koloni-
sierenden Völker eingetreten und sein überseeischer
Besitz deshalb geringer ist als derjenige der
Engländer oder Franzosen, daran trägt derselbe
Geist die Schuld, der jetzt die Mittel für eine
kraftvolle Kolonial= und Machtpolitik verweigert.
Die am lautesten die angebliche Wertlosigkeit
unserer Kolonien verkünden, sind deshalb am
wenigsten berechtigt, sich darauf zu berufen.
Jede Kolonisation bedingt ein Zusammen-
wirken privater Tatkraft und kollektiver Macht-
entfaltung, und von Anfang an ist der Wettkampf
um die nenu entdeckten Gebiete des bewohnbaren
Erdballes eine Sache der großen Nationalstaaten
gewesen, die sich gerade in diesem Kampfe zu
straffen Einheiten zusammenschlossen. Die Deutschen
dagegen verharrten, wie ihre Schicksalsgenossen,
die Italiener, in den vom Mittelalter über-
kommenen kommunalen und landschaftlichen Lebens-
formen, in politischer Zersplitterung und Parteiung.
So und nicht anders ist es gekommen, daß die
beiden im Zeitalter der Entdeckungen höchst-
entwickelten und reichsten Bölker Enuropas, die
einzigen, die es im Mittelalter verstanden hatten,
durch Kolonisation ihre Herrschaft auszubreiten —
von jenem Wettkampf einfach ausgeschlossen blieben.
Es ist aber großen VBölkern nicht vergönnt,
als unbeteiligte Zuschauer zur Seite zu stehen,
wenn sich weltgeschichtliche Umwälzungen voll-
ziehen. Hier gilt der Satz, daß, wer nicht
Hammer sein will, zum Amboß wird. In der-
selben Zeit, als England den Grund zu seinem
Weltreich legte, als andere Staaten ihrem Volks-
tum weite Gebiete errangen, ward Deutschland
zum meistmißhandelten Lande Europas. Soll ich
daran erinnern, wie seine blühenden Gefilde
immer wieder der Verwüstung anheimfielen, wie
seine Flußmündungen in fremde Hände gerieten,
das reiche Erbe Lübecks auf Amsterdam und bald
auf London überging? In den verarmten
Städten verkamen Handwerk und Kunst, die ost-
und süddeutschen Bauern verfielen der Herrschaft
lokaler Gewalten, der Leibeigenschaft. Armut,
Philistertum und Unfreiheit auf der einen, Klassen-
dünkel auf der andern Seite wurden zum Merk-
mal deutschen Lebens. Es war die Zeit ge-
kommen, in der Wohlstand und Freiheit nur
noch unter dem Schutze starker Staaten zu ge-
deihen vermochten.
Wie der Ausschluß Deutschlands von der
Teilnahme an der neuen Welt, so ist sein endlicher
Eintritt in die koloniale Tätigkeit eine Folge
seiner aus Kampf und Sieg hervorgegangenen
Einigung und der glänzenden Entwicklung ge-
wesen, welche die geeinigte Nation mit ihrem
Außenhandel, ihrer Industrie und Schiffahrt
rasch an die Spitze der europäischen Festlands-
staaten führte. Denn das wachsende Bewußtsein
der eignen Kraft und des eignen Wertes ließ es
schmerzlich empfinden, daß Millionen und aber
Millionen unserer besten Bürger, die als Kolonisten
hinauszogen, in fremde Nationen aufgingen
und deren Reiche bauen halfen, daß überall der
deutsche Kaufmann und Unternehmer draußen als
Fremdling an zweiter Stelle stand, daß er in
unzivilisierten Ländern eines kräftigen Schutzes
und unsere Kriegsflotte eigener Stützpunkte ent-
behren mußte. Als deshalb zu Anfang der
80er Jahre hansische Kaufleute Schutz für ihre
Niederlassungen an der afrikanischen Westküste
und in Polynesien begehrten, und bald der An-
trag einiger unternehmender junger Leute um
Anerkennung ihrer Gebietserwerbungen in Ost-
afrika folgte, war es ein notwendiger Ausdruck
nationalen Ehrgefühls, daß Fürst Bismarck diesem
Verlangen stattgab. Was die nationale Ehre
gebot, ist dann mehr und mehr als eine politische
und wirtschaftliche Notwendigkeit erkannt worden,
als eine wahre Lebensfrage für Deutschland.
Denn die Wandlungen der Verkehrstechnik
haben im 19. Jahrhundert alle Maßstäbe erweitert,
welche an die territoriale Grundlage nationaler
Staatenbildung und Wohlstandsentwicklung zu
legen sind. Das Zeitalter, dem die Nationalstaaten
Europas und ihre Kämpfe untereinander ihren
Stempel aufdrückten, geht seinem Ende entgegen.
Die rasche Besiedlung von bisher nur an den
Rändern besetzten, nun aber durch die Eisenbahnen
im Innern aufgeschlossenen großen Kontinenten,
die Besiedelung Nordamerikas, der La Plata-
Gebiete, Sibiriens, Kaplands usw., hat den
Schwerpunkt der Bevölkerungsvermehrung euro-
päischer Rassen bereits außerhalb Europas ver-
legt. Wir sehen wahre Weltreiche entstehen,
welche mit Hilfe der Eisenbahnen, Dampfschiffe
und Telegraphen ganze Erdteile und weit zer-
streute Dependenzen der Herrschaft einheitlicher,
politischer und wirtschaftlicher Systeme unterwerfen,
Staaten, die entweder schon jetzt mehrere hundert
Millionen Einwohner zählen, oder doch in abseh-
barer Zeit zählen werden.
Sie alle sehen wir in starker Ausbreitung be-
griffen und schwere Kriege nicht scheuen, um neue
Territorien ihrer Herrschaft anzugliedern. Die
außerordentliche Macht der neuen Weltreiche, an
ihrer Spitze die Vereinigten Staaten, liegt nicht
lediglich in der großen Volkszahl, sondern in der
erstaunlichen Fülle und Mannigfaltigkeit ihrer
natürlichen Reichtümer, sie sind weniger als die
anderen auf deren Ergänzung durch Einfuhr von
außen her angewiesen. Das Maß der Unab-
hängigkeit aber bestimmt die Stellung eines Landes
in der Welt. So steht die staatliche und wirt-