Full text: Deutsches Kolonialblatt. XXI. Jahrgang, 1910. (21)

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steigerung des Rohmaterials auch in Nordamerika 
nicht mehr Schritt halten. In Massachusetts ist 
in verschiedenen Fabriken die Tagesarbeit für un- 
bestimmte Zeit um 20 Minuten verkürzt. Diese 
Fabriken beschäftigen 18000 Arbeiter. Die 
Everett Mill in Lawrence hat 50 Stunden 
Wochenarbeit eingeführt, statt der bisherigen 56 
Stunden. Im Süden hat die 160 Baumwoll= 
fabriken einschließende Georgia Industrial Asso- 
ciation beschlossen, bis Ende des Jahres den Be- 
trieb um 25 v. H. einzuschränken. In Carolina 
liegt Ahnliches vor. Die letzten Nachrichten aus 
Amerika lauten dahin, daß die Einschränkung 
jetzt allgemein bis auf ¼ gestiegen ist, und aus 
England, daß die woöchentliche Arbeitszeit von 
56 auf 40 Stunden herabgesetzt werden mußte. 
Sie sehen, wie durch eine, allerdings anormale 
Situation, welche aber doch schon mehr oder 
minder seit langem besteht, insbesondere die 
Textilarbeiter leiden, indem durch die Umgehung 
der übrigen Faktoren, die ja selbstverständlich 
gleichfalls an der Notlage mittragen, eine direkte 
Lohnkürzung auf dem Wege der Arbeitsein- 
schränkung vorgenommen wird. Wenn 20 Mit- 
nuten am Tag, das ist das geringste der eben 
verlesenen Beispiele, auch nicht viel klingt, viel- 
leicht nur einen Wert von 10 bis 20 Pfennig 
hat, so macht das doch im Jahre 30 bis 60 . 
aus. Das ist auch der Grund, (weshalb die 
englische Arbeiterschaft sich so energisch der 
Bewegung angeschlossen hat, die die Spinner be- 
gonnen haben, nämlich sich durch Erschließung 
neuer Produktionsmärkte von dieser drücken- 
den, gefährlichen, und vor allen Dingen durch die 
große Unsicherheit, welche sie in die gesamte 
Produktion bringt, auch spekulativen Situation zu 
befreien. Ich wiederhole, die Situation ist nicht 
allein durch die Baumwollknappheit der Welt er- 
zielt, sondern auch durch eine zu rasche Aus- 
dehnung der Fabriken. Aber sie zeigt, und dar- 
auf kommt es mir an, wie nahe die Gefahr an 
und für sich liegt, und wie wenig sich zu er- 
eignen braucht, um Milliarden europäischen Ka- 
pitals dividendenlos zu machen, und Millionen 
Arbeiter um einen erheblichen Teil ihres doch 
gewiß nicht übermäßig reichlichen Verdienstes zu 
schädigen. 
Ist die gegenwärtige Lage der Spinn= und 
MWebeindustric also eine Kombination einer zu 
starken maschinellen Expansion einerseits und einer 
knappen und vor allen Dingen durch ihre sprung- 
hafte Bewegung teuren Rohstoffversorgung mit den 
unangenehmsten spekulativen Nebenerscheinungen 
und Answüchsen, und haben wir festgestellt, daß 
der erste dieser Faktoren zweifellos beseitigt werden 
kann, so will ich jetzt versuchen festzustellen, in- 
wieweit die zweite Schädigung ausgemerzt werden 
  
kann, d. h. inwieweit man für die Zukunft auf 
eine bessere, mit dem Verbrauch schritthaltende 
und vor allen Dingen wohlfeile Rohstoffversorgung 
wird rechnen können. Dieser Teil der Unter- 
suchung ist erheblich viel schwieriger. 
Die Weltproduktion des Jahres 1908, um- 
gerechnet auf Ballen von 500 Pfund englisch 
netto, betrug 19574000. Die Ziffern find einer 
amerikanischen offiziellen Denkschrift entnommen 
und haben die folgende Unterteilung: Vereinigte 
Staaten 13 002 000, Britisch-Indien 2 914 000, 
Aegypten 1 275 000, Rußland 846 000, China 
600 000, Brafilien 425 000 Ballen, verschiedene 
kleinere Produzenten 492 000 Ballen. Für das 
Jahr 1909 stehen folgende Ziffern als Schätzungs- 
werte zur Verfügung: Vereinigte Staaten 10 Milli- 
onen Ballen, Britisch-Indien 4 Millionen Ballen, 
Agypten 960 000 Ballen. Nimmt man die 
übrigen Produzenten ebenso an wie im Jahre 
1908, so ergibt sich hieraus eine Minderernte 
von 1 840 000 Ballen. Das ist nahezu der 
Baumwollebedarf Deutschlands. Will man nun 
aber in seinen Untersuchungen weitergehen, so 
wird man von jetzt ab eine theoretische Unter- 
scheidung machen müssen zwischen den Ländern, 
welche Baumwolle produzieren und konsumieren 
und solchen, welche Baumwolle nur konsumieren. 
Zu den letzteren gehören der ganze europäische 
Kontinent und auch Rußland, welches zu der eigenen 
Produktion von Baumwolle noch genötigt ist, 
Baumwolle aus anderen Gebieten, den Vereinigten 
Staaten, Agypten, Kleinasien und Persien einzu- 
führen. Auch muß hier die ägyptische Baumwoll- 
produktion ausscheiden, weil nach Qualität und 
Preis sie in eine ganz andere Kategorie gehört 
und auch nach ihrer Verwendungsart nicht zu 
denjenigen Textilien, welche dem Bekleidungsbedarf 
der großen Massen dienen. Was uns hier inter- 
essiert, ist die Versorgung Europas, insbesondere 
Deutschlands mit Rohbaumwolle der amerikani- 
schen und ähnlichartiger Baumwollevarietät. 
Schon die oben angegebene Ziffer von 13 
bzw. 10 Millionen Ballen amerikanischer Pro- 
duktion zeigt, daß eine Einsicht in diese Verhält- 
nisse nur durch das Studium der Baumwoll- 
produktion und -Konsumtion der nordamerikani- 
schen Union gewonnen werden kann. Daneben 
aber habe ich auch die Baumwollverhältnisse 
der anderen Produktionsländer studieren lassen, ins- 
besondere im wesentlichen um eine Kenntnis über 
die Baumwollzucht in ariden und semi-ariden 
Ländern zu gewinnen, Russisch-Asien, insbesondere 
Turkestan. 
Auch ist Ihnen bekannt, daß ich im vorigen 
Jahre mit sachverständiger Begleitung in den 
Vereinigten Staaten gewesen bin, um an Hand 
neuerer Einblicke meine Kenntnisse über die Pro-
	        
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