Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

$ 17. Das Staatsbürgerrecht im Einzelstaat. 161 
Einzelstaaten, auf den Anteil der Bevölkerung an der verfassungs- 
mäßigen Herstellung und Ausführung des Staatswillens innerhalb der 
den Einzelstaaten verbliebenen Sphäre, ist die Staatsangehörigkeit maß- 
gebend geblieben und die Angehörigen der anderen Bundesstaaten sind 
in dieser Hinsicht Ausländer, Fremde. Es gilt dies namentlich von 
der wichtigsten dieser Funktionen, dem sogenannten Wahlrecht; für 
die Landtage der Einzelstaaten können, falls nicht das partikuläre 
Staatsrecht eine Ausnahme zuläßt, nur Angehörige des Staates wählen 
oder an ihnen als Mitglieder teilnehmen. An keinem Punkte kann 
man Reichsangehörigkeit und Staatsangehörigkeit schärfer auseinander- 
halten als durch den Gegensatz zwischen Reichstagswahl und Land- 
tagswahl. Hier allein sind beide wirklich getrennt‘). 
Der Autonomie der Einzelstaaten ist es auch überlassen, das Maß 
der politischen Rechte und die Voraussetzungen ihrer Ausübung, welche 
außer der Staatsangehörigkeit selbst erfordert werden, wie Alter, Ge- 
schlecht, Domizil, Entrichtung direkter Steuern u. s. w. zu bestimmen. 
Nur in einer Hinsicht hat das Reich hier den Einzelstaaten eine 
Schranke aufgerichtet durch das Reichsgesetzvom3.Juli1869: 
»Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen 
Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen 
und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch auf- 
gehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Teilnahme an 
der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffent- 
licher Aemter vom religiösen Bekenntnis unabhängig sein.« 
Mit dem Reichsbürgerrecht hat der Inhalt dieses Gesetzes 
gar nichts zu tun; im Norddeutschen Bunde und im Reiche hat es 
Beschränkungen der reichsbürgerlichen Rechte wegen irgend eines re- 
ligiösen Bekenntnisses niemals gegeben; sie konnten daher auch nicht 
aufgehoben werden. Ein »Recht der Glaubensfreiheit« oder der »Be- 
kenntnisfreiheit«, das durch das Reichsindigenat begründet 
und durch dieses Gesetz gewährleistet worden sei, ist ein juristisches 
Unding , denn der Deutsche hat die Fähigkeit, seine eigenen religiösen 
Ueberzeugungen zu haben und zu bekennen, von der Natur, nicht 
vom Recht. Um zu glauben, was man will, bedarf man des Reiches 
nicht. Aufgehoben ist vielmehr nur der Mißbrauch der Staatsgewalt, 
an die Ausübung dieser natürlichen Fähigkeit Strafen, Rechtsnachteile 
und politische Beschränkungen zu knüpfen ?). Das Gesetz bezieht sich 
1) Auch auf das Gemeindewahlrecht finden diese Grundsätze Anwendung. 
Wenn die Landesgesetze als Voraussetzung desselben die Staatsangehörigkeit er- 
fordern, ist die Reichsangehörigkeit nicht an ihre Stelle getreten; Angehörige an- 
derer deutscher Staaten sind in diesem Falle weder wahlberechtigt noch wählbar. 
Entsch. des Preuß. ObVGerichts vom 12. Dezember 1894 bei Reger Bd. 15, S. 330. 
2) Durch die historische Betrachtung, daß dieser Mißbrauch „eine Jahrhunderte 
andauernde schwere Leidensgeschichte Deutschlands“ ausfüllt (Zorn I], S. 353; vgl. 
Störk, Methode S. 65), wird der dogmatische Gesichtspunkt nicht berührt, daß nicht
	        
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