Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

$ 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 41 
betreffend Maßregeln gegen die Reblauskrankheit, die im Art. 4 nor- 
mierte Kompetenz überschreitet, ist kaum zweifelhaft). Dasselbe gilt 
von den Gesetzen über die Arbeiterversicherung. Ganz offenbar aber 
ist es, daß Art. 1 der Reichsverfassung durch das Gesetz vom 9. Juni 
1871, betreffend die Vereinigung von Elsaß-Lothringen mit dem Deut- 
schen Reiche, und Art. 20, Abs. 2 und Art. 40 der Reichsverfassung 
durch das Gesetz vom 25. Juni 1873, betreffend die Einführung der 
Verfassung des Deutschen Reiches in Elsaß-Lothringen, materiell ab- 
geändert worden sind, obgleich diese Veränderungen im Text der Ver- 
fassung keinen Ausdruck gefunden haben. Ferner hat das Gesetz vom 
21. Juli 1870 die Legislaturperiode des damaligen Reichstages über die 
im Art. 24 der Reichsverfassung festgesetzte Dauer verlängert. Auch 
ist Art. 50, Abs. 2 der Reichsverfassung durch das Postgesetz vom 
28. Oktober 1871 850 modifiziert worden ?.. Ebenso wurde Art. 70 der 
Reichsverfassung durch das Gesetz vom 15. Juli 1879 88 und das Ge- 
setz vom 1. Juli 1881 $ 32, ferner Art. 17 durch das Stellvertretungs- 
gesetz abgeändert, und diese Beispiele lassen sich noch erheblich ver- 
mehren. 
Wenn man hiernach anerkennen muß, daß unter Beobachtung der 
im Art. 78 aufgestellten Erfordernisse verfassungsändernde Gesetze er- 
lassen werden können, ohne daß der Wortlaut der Verfassungsurkunde 
eine Abänderung erfährt, so entsteht die weitere Frage, ob solche Ge- 
setze ebenfalls nur unter Beobachtung der im Art. 78, Abs. 1 gegebenen 
Vorschrift abgeändert werden können oder ob hierzu ein von der ein- 
fachen Majorität des Bundesrates sanktioniertes Gesetz genügt. Diese 
Frage ist im letzteren Sinne zu entscheiden °). Denn die erschwerende 
Bedingung des Art. 78, Abs. 1 setzt Anordnungen voraus, welche for- 
mell Bestandteile der Verfassung urkunde geworden oder an die 
Stelle solcher Bestandteile getreten sind. Nicht die materielle Wichtig- 
keit eines Rechtssatzes, sondern dieses äußerliche Merkmal allein ist 
dafür entscheidend, ob die allgemeine Regel der Art. 5 und 7 oder die 
spezielle Regel des Art. 78, Abs. 1 Anwendung findet. Wenn demnach 
einmal die Verfassung durch ein Spezialgesetz mittelbar abgeändert 
worden ist, so können die Bestimmungen dieses Spezialgesetzes fortan 
durch ein mit einfacher Majorität sanktioniertes Gesetz verändert wer- 
den, wenngleich dadurch noch weitergehende Modifikationen der ur- 
sprünglichen Verfassungssätze herbeigeführt werden. Auch dieser 
1) Vgl. Protokoll des Bundesrates 1875, S 170. 
2) Hänela.a. OÖ. Auch das Gesetz vom 25. Mai 1873 über die Rechtsverhält- 
nisse der zum dienstlichen Gebrauche einer Reichsverwaltung bestimmten Gegen- 
stände ist nach der Ansicht von Seydel (in Behrend’s Zeitschr. für die deutsche 
Gesetzgebung Bd. 7, S. 234) außerhalb der verfassungsmäßigen Reichskompetenz 
erlassen worden. 
3) In demselben Sinne äußern sich: Thudichum, Verfassungsrecht S. 84 und 
Westerkamp 8.135. Die entgegengesetzte Ansicht vertritt Hänel S. 255, Note 6. 
Keine Beantwortung der Frage enthalten die Bemerkungen v. Mohls S. 158.
	        
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