244 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dez. 20.)
der wirtschaftlichen Zustände für eine Unmöglichkeit. Sodann die Ver-
fassungsreformfrage. Gegenwärtig teilen sich die Landstände in zwei
Kammern: diejenige der Standesherren und diejenige der Abgeordneten.
Letztere ist zusammengesetzt aus 70 gewählten Abgrordneten (je einer aus
jedem der 63 Oberamtsbezirke und je einem der sieben sog. „guten“ Städte
(nämlich Stuttgart, Tübingen, Ludwigsburg. Ellwangen, Ulm, Heilbronn
und Reutlingen), ferner aus den sog. Privilegierten, d. h. 13 Mitgliedern
des ritterschaftlichen Adels, welche von diesem aus seiner Mitte gewählt
werden, aus den 6 protestantischen Generalsuperintendenten, aus dem katho-
lischen Landes- bischof in Rottenburg, einem von dem Domkapitel daselbst aus
seiner Mitte gewählten Mitgliede, dem der Amtszeit nach ältesten Dekan
katholischer Konfession und aus dem Kanzler der Landesuniversität Tübingen.
Daß dieser Apparat schwerfällig und das konservative Element durch die
„Privilegierten“ unverhältnis- mäßig vertreten ist, leuchtet ein und, daß ge-
rade in dieser Richtung eine Reform zeitgemäß und geboten erscheint, ist die
allgemeine Ansicht. Nur über die Ausführung im Einzelnen kann man sich
nicht einigen. Während die Volkspartei durch eine Radikalkur, nämlich
vollständige Beseitigung der Kammer der Standesherren und Abschaffung
der „Privilegierten“, also Einkammersystem mit reiner Volkswahl, helfen
will, wollen die Gegner sich nur zu einer Reduktion der „ Privilegierten“
in der zweiten Kammer verstehen. In der Verwaltung soll aus Verein-
fachung und Ersparnisse hingearbeitet werden.
Zusammen mit dem Resultat der preußischen Landtagswahlen vom
26. Oktober l. J. ist das Resultat der württembergischen Landtagswahlen
unzweifelhaft ein bedeutsames. Beide können nicht wohl anders denn als
Rückschläge gegen die Reichstagswahlen von 1881 angesehen werden. Ein
gewisser Umschwung der öffentlichen Meinung im Süden wie im Norden
ist unverkennbar; doch warnen selbst solche, die damit sehr einverstanden sind,
vor einer Überschätzung desselben, namentlich vor dem Gedanken, darauf ge-
stützt den Reichstag aufzulösen und Neuwahlen zu versuchen und raten viel-
mehr „die bisher mit Glück geübte Politik einer ruhigen Diskreditierung des
Windthorst- Richter-Bamberg' schen Mehrheitsreichs- tags fortzusetzen und vol-
lends zu befestigen“, indem sie folgendermaßen räsonnieren: „Die Ursache
des Gegensatzes der Wahlergebnisse im Reich und in den Einzelstaaten liegt
darin, daß die Wähler in den letzteren überblicken können, um was es sich
handelt; sie kennen das lokale Bedürfnis und sehen bald, was sie von den
Parteien in dieser Beziehung tatsachlich gewinnen oder nicht gewinnen.
Die auf das Reich bezüglichen Fragen vermögen dagegen die meisten der
Wähler nicht zu überblicken, sie haben keine oder nur höchst ungenügende
Fühlung damit, was hier Bedürfnis ist und was tatsächlich geleistet wird,
sie sind deshalb auf die theoretischen Programme angewiesen und fallen
naturgemäß demjenigen anheim, der die blendendsten, packendsten Worte in
seinen Wahlreden zum Besten gibt. Daß auch im Reich ein Umschwung
kommen wird, ist unzweifelhaft; aber er wird langsam, viel langsamer kom-
men als in den Einzelstaaten in Bezug aus deren Volksvertretung, und wer sich
aus der unverkennbaren nach Mäßigung und naturgemäßer Entwicklung hin-
zielenden Bewegung in den Einzelstaaten zu Erwartungen auf eine gleich-
zeitige ähnliche Bewegung im Reich hingeben würde, würde in einer argen
Täuschung befangen sein. Man sieht aus den Vorgängen in Württemberg
und Preußen, daß man vom kleinen Kreis ausgehend den größern gewinnen
kann, und man wird gut daran tun, das nach gesunder Mäßigung strebende
Volk nicht durch Gleichgiltigkeit gegen seine Interessen zu verstimmen oder
durch reaktionäre Bestrebungen wieder zu erschrecken, sonst jagt man
es in die Arme der extremen Parteien zurück.“