Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Lessing. Herder. 97 
freien Schriftstellers zu Ehren brachte und zu allen Gebildeten der Nation 
wirksam zu reden verstand. Die dunkelsten Probleme der Theologie, der 
Aesthetik, der Archäologie erschienen durchsichtig klar, wenn er sie behandelte 
in dem leichten Tone des lebhaften obersächsischen Gesprächs, in jener 
kunstvoll einfachen Prosa, die überall sein innerstes Wesen, die Heiterkeit 
im Verstande, widerspiegelte. 
Und hier, schon in den Jugendjahren der classischen deutschen Prosa, 
zeigte sich's, daß unsere freie Sprache jeden individuellen Stil ertrug, 
jeden schöpferischen Kopf nach seiner Weise gewähren ließ: der offenbar an 
französischen Mustern gebildete Stil Lessing's war ebenso deutsch wie die 
majestätischen Perioden Winckelmann's, denn Beide schrieben wie sie mußten. 
Die rechte Sicherheit des literarischen Selbstgefühls kam den Deutschen 
aber erst da der große Kritiker sich auch als ein Künstler zeigte und 
unserer Bühne die ersten Werke schenkte, die nicht beschämt wurden durch 
die reiche Wirklichkeit des fridericianischen Zeitalters und mit der Dramatik 
des Auslandes in die Schranken treten durften — Werke des schärfsten 
Kunstverstandes und doch voll leidenschaftlicher dramatischer Bewegung, 
bühnengerecht und doch in voller Freiheit erfunden, Gestalten von unver— 
gänglichem menschlichem Gehalt, und doch mit kecker Hand aus dem be— 
wegten Leben der nächsten Gegenwart herausgegriffen. So stieg er hoch 
und höher, nach allen Seiten hin den Samen einer freien Bildung 
streuend: durch seine Emilia weckte er der jungen Literatur den Muth, 
ihre Stimme zu erheben gegen die Unfreiheit in Staat und Gesellschaft; 
seine theologischen Streitschriften legten den Grund für eine neue Epoche 
unserer theologischen Wissenschaft, für die Evangelienkritik des neunzehnten 
Jahrhunderts; seine letzte Dichtung schuf die Form für das Drama hohen 
Stils, das nachher durch Schiller seine Ausbildung erhalten sollte, und 
verkündete zugleich jenes Glaubensbekenntniß deutscher Aufklärung, dessen 
heitere Milde anderen Völkern erst nach den Stürmen der Revolution 
verständlich wurde. 
In den siebziger Jahren trat eine neue, noch reichere Generation 
auf den Plan. Herder's universaler Geist vereinte in sich die Verstandes- 
kühnheit Lessing's und die Gemüthsfülle Klopstock's. Er fand die in langen 
Jahrhunderten barbarischer Ueberbildung verlorene Wahrheit wieder, daß 
die Dichtung nicht das Besitzthum Einzelner, sondern eine gemeine Gabe 
aller Völker und Zeiten ist, und führte die deutsche Lyrik zu unseren 
alten volksthümlichen Formen und Stoffen zurück: der seelenvolle Klang 
des deutschen Reims trat von Neuem in sein Recht, in Liedern und 
Balladen gewann das erregte Gefühl einen warmen, tiefen und natür— 
lichen Ausdruck. Einem durchaus unhistorischen Zeitalter, das im Zer— 
stören einer verrotteten Welt historischer Trümmer seinen Ruhm fand, 
erweckte Herder das Verständniß des geschichtlichen Lebens. Sein freier 
Sinn verachtete die Armseligkeit jenes selbstzufriedenen Wahnes, der 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. 1. 7
	        
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