Lessing. Herder. 97
freien Schriftstellers zu Ehren brachte und zu allen Gebildeten der Nation
wirksam zu reden verstand. Die dunkelsten Probleme der Theologie, der
Aesthetik, der Archäologie erschienen durchsichtig klar, wenn er sie behandelte
in dem leichten Tone des lebhaften obersächsischen Gesprächs, in jener
kunstvoll einfachen Prosa, die überall sein innerstes Wesen, die Heiterkeit
im Verstande, widerspiegelte.
Und hier, schon in den Jugendjahren der classischen deutschen Prosa,
zeigte sich's, daß unsere freie Sprache jeden individuellen Stil ertrug,
jeden schöpferischen Kopf nach seiner Weise gewähren ließ: der offenbar an
französischen Mustern gebildete Stil Lessing's war ebenso deutsch wie die
majestätischen Perioden Winckelmann's, denn Beide schrieben wie sie mußten.
Die rechte Sicherheit des literarischen Selbstgefühls kam den Deutschen
aber erst da der große Kritiker sich auch als ein Künstler zeigte und
unserer Bühne die ersten Werke schenkte, die nicht beschämt wurden durch
die reiche Wirklichkeit des fridericianischen Zeitalters und mit der Dramatik
des Auslandes in die Schranken treten durften — Werke des schärfsten
Kunstverstandes und doch voll leidenschaftlicher dramatischer Bewegung,
bühnengerecht und doch in voller Freiheit erfunden, Gestalten von unver—
gänglichem menschlichem Gehalt, und doch mit kecker Hand aus dem be—
wegten Leben der nächsten Gegenwart herausgegriffen. So stieg er hoch
und höher, nach allen Seiten hin den Samen einer freien Bildung
streuend: durch seine Emilia weckte er der jungen Literatur den Muth,
ihre Stimme zu erheben gegen die Unfreiheit in Staat und Gesellschaft;
seine theologischen Streitschriften legten den Grund für eine neue Epoche
unserer theologischen Wissenschaft, für die Evangelienkritik des neunzehnten
Jahrhunderts; seine letzte Dichtung schuf die Form für das Drama hohen
Stils, das nachher durch Schiller seine Ausbildung erhalten sollte, und
verkündete zugleich jenes Glaubensbekenntniß deutscher Aufklärung, dessen
heitere Milde anderen Völkern erst nach den Stürmen der Revolution
verständlich wurde.
In den siebziger Jahren trat eine neue, noch reichere Generation
auf den Plan. Herder's universaler Geist vereinte in sich die Verstandes-
kühnheit Lessing's und die Gemüthsfülle Klopstock's. Er fand die in langen
Jahrhunderten barbarischer Ueberbildung verlorene Wahrheit wieder, daß
die Dichtung nicht das Besitzthum Einzelner, sondern eine gemeine Gabe
aller Völker und Zeiten ist, und führte die deutsche Lyrik zu unseren
alten volksthümlichen Formen und Stoffen zurück: der seelenvolle Klang
des deutschen Reims trat von Neuem in sein Recht, in Liedern und
Balladen gewann das erregte Gefühl einen warmen, tiefen und natür—
lichen Ausdruck. Einem durchaus unhistorischen Zeitalter, das im Zer—
stören einer verrotteten Welt historischer Trümmer seinen Ruhm fand,
erweckte Herder das Verständniß des geschichtlichen Lebens. Sein freier
Sinn verachtete die Armseligkeit jenes selbstzufriedenen Wahnes, der
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. 1. 7