Goethe's Anfänge. 99
an und hieß den Schwager Kronos in's Horn stoßen, „daß der Orkus
vernehme: ein Fürst kommt! — drunten von ihren Sitzen sich die Ge—
waltigen lüften.“ Wohl war es Fürstenwerk, wie er schon durch seine
Jugendgedichte der deutschen Lyrik das neue Leben brachte, das Herder
nur ahnte. Alle die holden und zarten, die süßen und sehnsüchtigen
Gefühle des deutschen Herzens, die von Klopstock's pathetischem Oden—
stile übertäubt wurden, gewannen jetzt auf einmal Sprache; die uralten
Lieder vom Röslein auf der Haide entzückten wieder die gebildete Jugend,
seit Goethe sie den Hirten und den Jägern ablauschte, ihre Einfalt adelte
durch den Zauber seiner Kunst; an seinen geselligen Liedern lernten die
Deutschen wieder, so recht aus Herzensgrunde froh zu sein, unbefangen
aufzugehen im himmlischen Behagen des Augenblicks. Dann führte der
Götz die derbe unverstümmelte Kraft und Großheit des alten deutschen
Lebens der Nation wieder vor die Augen; dann fanden Werther's Leiden
das erlösende Wort für den Sturm und Drang schwärmerischer Leiden—
schaft, der die Herzen des jungen Geschlechts erfüllte, und es ward auch
politisch bedeutsam, daß einmal doch in diesem zerrissenen Volke ein Dichter
einen unwiderstehlichen, allgemeinen Erfolg errang, wie einst Cervantes,
und Alles was jung war in schöner Begeisterung sich zusammenfand. Als
das fridericianische Zeitalter zu Ende ging, riß der Dichter sich los aus
jenen Herzenskämpfen, denen wir die schönsten Liebesgedichte deutscher
Sprache verdanken, um nach zehn Jahren höfischen Lebens voll Arbeit
und Zerstreuung wieder ein Künstler zu werden; er eilte in „jenes Land,
wo für jeden Empfänglichen die eigenste Bildungsepoche beginnt“, dort
im Süden lernte er nordische Leidenschaft und Gemüthstiefe mit antiker
Formenreinheit zu versöhnen.
So groß er war und so gewaltig sein Einfluß, die Herrschaft über
unsere Dichtung hat er nie beansprucht, und deutsche Freiheit hätte sie
Keinem gestattet. Nach wie vor, auch nachdem jener übermächtige Genius
erstanden war, fluthete die literarische Bewegung in fröhlicher Ungebun—
denheit dahin: hunderte selbständiger Köpfe nach eigenem Willen thätig;
überall in den Dichterbünden und Freimaurerlogen ein begeistertes Suchen
nach reiner Menschlichkeit, nach der Erkenntniß des Ewigen; und überall
in dem bewegten Treiben die frohe Ahnung einer wundervollen Zukunft.
Dies Geschlecht fühlte sich wie emporgehoben über die gemeine Wirklichkeit
der Dinge, wie auf Windesflügeln dahingetragen dem Tage des Lichts,
der Vollendung der Menschheit entgegen. Die gedankenlose Masse freilich
verlangte auch damals, wie zu allen Zeiten, nur nach behaglicher Unter—
haltung; Wieland's schalkhafte Munterkeit war ihr bequemer als Klop—
stock's Pathos, wie späterhin Kotzebue populärer wurde als Schiller und
Goethe. Aber in den besten Kreisen der Gesellschaft herrschte ein freu—
diger Idealismus; er gab der Bildung des Zeitalters das Gepräge.
Indessen entdeckte die Nation, daß sie neben dem größten Dichter auch
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