Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

118 I. 2. Revolution und Fremdherrschaft. 
neuen, lebensvollen Staatsanschauung heraus, die mit dem erwachenden 
historischen Sinne der deutschen Wissenschaft fest zusammenhing. Dem 
weltbürgerlichen Radicalismus der Revolution trat eine historische Staats- 
lehre entgegen; sie bekämpfte den selbstgefälligen Wahn seichter Köpfe, welche 
die überwundene Grille einer alleinseligmachenden Kirche in die Politik 
einzuführen, die reiche Mannigfaltigkeit nationaler Staats= und Rechts- 
bildung durch einen Katechismus naturrechtlicher Gemeinplätze zu ver- 
drängen gedächten; sie widerlegte den Aberglauben an die Vernunft der 
Mehrheit durch den schneidigen Satz: nicht die Mehrheitsherrschaft, son- 
dern das liberum veto sei natürlichen Rechtens; sie vertheidigte die Macht 
des Staates wider den zügellosen Individualismus des Zeitalters und 
hielt der Begehrlichkeit des souveränen Ich die tiefe Wahrheit entgegen: 
„politische Freiheit ist politisch beschränkte Freiheit.“ 
Lange Jahre voll schwerer Erfahrungen sollten noch vergehen, bis 
die Gebildeten der Nation diese Sprache verstehen lernten. Vorläufig 
ließ man sich in seiner Ruheseligkeit nicht stören und noch weniger war 
in den niederen Schichten des Volks irgendwelche gefährliche politische 
Aufregung zu bemerken. Deutschlands Unheil lag in der Kleinstaaterei 
und der Fäulniß der Reichsverfassung; und wie hätte der stillvergnügte 
Particularismus der Massen diese Grundschäden des deutschen Lebens 
erkennen sollen? Die inneren Zustände der größeren weltlichen Staaten, 
soweit sie der Geist des fridericianischen Zeitalters berührt hatte, boten zu 
leidenschaftlichem Unwillen keinen Anlaß. Viele der politischen Gedanken, 
welche die Halbbildung heutzutage als „Ideen von 89“ zu feiern pflegt, 
waren in Preußen längst durchgeführt oder der Verwirklichung nahe; die 
Gewissensfreiheit bestand von Altersher, desgleichen eine wenig beschränkte 
Freiheit der Presse, die Kirchen waren im evangelischen Norden fast überall 
der Hoheit des Staates untergeordnet und ihre Güter secularisirt; eine 
wohlmeinende landesherrliche Verwaltung setzte den Herrenrechten des 
Adels enge Schranken, und was noch aufrecht stand von den Ueberresten 
einer überlebten Gesellschaftsordnung konnte durch einen festen reforma- 
torischen Willen friedlich beseitigt werden. Nur in den Kleinstaaten, die 
der Gerechtigkeit der Monarchie entbehrten, fanden die Sünden der alt- 
französischen Adelsherrschaft ein Gegenbild. Dort im stiftischen Deutsch- 
land blühte noch die katholische Glaubenseinheit und die Hoffart adlicher 
DomcMapitel, in den Reichsstädten waltete die Trägheit und die Corruption 
altbürgerlicher Vetterschaft, in den Territorien der Fürsten, Grafen und 
Reichsritter die Willkür kleiner Winkeltyrannen; das ganze Dasein dieser 
verderbten und verknöcherten Staatsgewalten war ein Hohn auf die Ideen 
des Jahrhunderts. 
Fast allein in diesen winzigsten Gebieten des Reichs ließ sich, da 
aus Frankreich die frohe Kunde der großen Bauernbefreiung kam, eine 
leise Gährung im Volke verspüren. Es geschah, daß die Aebtissin von
	        
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