118 I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
neuen, lebensvollen Staatsanschauung heraus, die mit dem erwachenden
historischen Sinne der deutschen Wissenschaft fest zusammenhing. Dem
weltbürgerlichen Radicalismus der Revolution trat eine historische Staats-
lehre entgegen; sie bekämpfte den selbstgefälligen Wahn seichter Köpfe, welche
die überwundene Grille einer alleinseligmachenden Kirche in die Politik
einzuführen, die reiche Mannigfaltigkeit nationaler Staats= und Rechts-
bildung durch einen Katechismus naturrechtlicher Gemeinplätze zu ver-
drängen gedächten; sie widerlegte den Aberglauben an die Vernunft der
Mehrheit durch den schneidigen Satz: nicht die Mehrheitsherrschaft, son-
dern das liberum veto sei natürlichen Rechtens; sie vertheidigte die Macht
des Staates wider den zügellosen Individualismus des Zeitalters und
hielt der Begehrlichkeit des souveränen Ich die tiefe Wahrheit entgegen:
„politische Freiheit ist politisch beschränkte Freiheit.“
Lange Jahre voll schwerer Erfahrungen sollten noch vergehen, bis
die Gebildeten der Nation diese Sprache verstehen lernten. Vorläufig
ließ man sich in seiner Ruheseligkeit nicht stören und noch weniger war
in den niederen Schichten des Volks irgendwelche gefährliche politische
Aufregung zu bemerken. Deutschlands Unheil lag in der Kleinstaaterei
und der Fäulniß der Reichsverfassung; und wie hätte der stillvergnügte
Particularismus der Massen diese Grundschäden des deutschen Lebens
erkennen sollen? Die inneren Zustände der größeren weltlichen Staaten,
soweit sie der Geist des fridericianischen Zeitalters berührt hatte, boten zu
leidenschaftlichem Unwillen keinen Anlaß. Viele der politischen Gedanken,
welche die Halbbildung heutzutage als „Ideen von 89“ zu feiern pflegt,
waren in Preußen längst durchgeführt oder der Verwirklichung nahe; die
Gewissensfreiheit bestand von Altersher, desgleichen eine wenig beschränkte
Freiheit der Presse, die Kirchen waren im evangelischen Norden fast überall
der Hoheit des Staates untergeordnet und ihre Güter secularisirt; eine
wohlmeinende landesherrliche Verwaltung setzte den Herrenrechten des
Adels enge Schranken, und was noch aufrecht stand von den Ueberresten
einer überlebten Gesellschaftsordnung konnte durch einen festen reforma-
torischen Willen friedlich beseitigt werden. Nur in den Kleinstaaten, die
der Gerechtigkeit der Monarchie entbehrten, fanden die Sünden der alt-
französischen Adelsherrschaft ein Gegenbild. Dort im stiftischen Deutsch-
land blühte noch die katholische Glaubenseinheit und die Hoffart adlicher
DomcMapitel, in den Reichsstädten waltete die Trägheit und die Corruption
altbürgerlicher Vetterschaft, in den Territorien der Fürsten, Grafen und
Reichsritter die Willkür kleiner Winkeltyrannen; das ganze Dasein dieser
verderbten und verknöcherten Staatsgewalten war ein Hohn auf die Ideen
des Jahrhunderts.
Fast allein in diesen winzigsten Gebieten des Reichs ließ sich, da
aus Frankreich die frohe Kunde der großen Bauernbefreiung kam, eine
leise Gährung im Volke verspüren. Es geschah, daß die Aebtissin von