Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

4 I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden. 
Ernst des deutschen Gewissens führte die verweltlichte Kirche zurück zu 
der erhabenen Einfalt des evangelischen Christenthums; deutschem Geiste 
entsprang der Gedanke der Befreiung des Staates von der Herrschaft 
der Kirche. Unser Volk erstieg zum zweiten male einen Höhepunkt seiner 
Gesittung, begann schlicht und recht die verwegenste Revolution aller 
Zeiten. In anderen germanischen Ländern hat der Protestantismus 
überall die nationale Staatsgewalt gestärkt, die Vielherrschaft des Mittel- 
alters aufgehoben. In seinem Geburtslande vollendete er nur die Auf- 
lösung des alten Gemeinwesens. Es ward entscheidend für alle Zukunft 
der deutschen Monarchie, daß ein Fremdling unsere Krone trug während 
jener hoffnungsfrohen Tage, da die Nation frohlockend den Wittenberger 
Mönch begrüßte und, bis in ihre Tiefen aufgeregt, eine Neugestaltung 
des Reiches an Haupt und Gliedern erwartete. Die kaiserliche Macht, 
dermaleinst der Führer der Deutschen im Kampfe wider das Papstthum, 
versagte sich der kirchlichen, wie der politischen Reform. Das Kaiserthum 
der Habsburger ward römisch, führte die Völker des romanischen Süd- 
europas in's Feld wider die deutschen Ketzer und ist fortan bis zu seinem 
ruhmlosen Untergange der Feind alles deutschen Wesens geblieben. 
Die evangelische Lehre sucht ihre Zuflucht bei den weltlichen Landes- 
herren. Als Beschützer des deutschen Glaubens behaupten und bewähren 
die Territorialgewalten das Recht ihres Daseins. Doch die Nation ver- 
mag weder ihrem eigensten Werke, der Reformation, die Alleinherrschaft 
zu bereiten auf deutschem Boden, noch ihren Staat durch die weltlichen 
Gedanken der neuen Zeit zu verjüngen. Ihr Geist, von Alters her zu 
überschwänglichem Idealismus geneigt, wird durch die tiefsinnige neue 
Theologie den Kämpfen des politischen Lebens ganz entfremdet; das leidsame 
Lutherthum versteht nicht die Gunst der Stunde zu befreiender That zu 
benutzen. Schimpflich geschlagen im schmalkaldischen Kriege beugt das 
waffengewaltige Deutschland zum ersten male seinen Nacken unter das Joch 
der Fremden. Dann rettet die wüste Empörung Moritz's von Sachsen 
dem deutschen Protestantismus das Dasein und zerstört die hispanische 
Herrschaft, aber auch die letzten Bande monarchischer Ordnung, welche 
das Reich noch zusammengehalten; in schrankenloser Willkür schaltet fortan 
die Libertät der Reichsstände. Nach raschem Wechsel halber Erfolge und 
halber Niederlagen schließen die ermüdeten Parteien den vorzeitigen Re- 
ligionsfrieden von Augsburg. Es folgen die häßlichsten Zeiten deutscher 
Geschichte. Das Reich scheidet freiwillig aus dem Kreise der großen 
Mächte, verzichtet auf jeden Antheil an der europäischen Politik. Unbe- 
weglich und doch unversöhnt lebt die ungestalte Masse katholischer, luthe- 
rischer, calvinischer Landschaften durch zwei Menschenalter träge träumend 
dahin, während dicht an unsern Grenzen die Heere des katholischen Welt- 
reichs ihre Schlachten schlagen, die niederländischen Ketzer um die Freiheit 
des Glaubens und die Herrschaft der Meere kämpfen.
	        
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