Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

288 I. 3. Preußens Erhebung. 
Reform und für alle die anderen Opfer, die er sonst noch der wieder- 
erstehenden Nation zudachte, schien ihm der Beistand einer reichsständischen 
Versammlung unentbehrlich; nur müsse sie vorläufig, wegen der Unreife 
des Volks, auf das Recht der Berathung beschränkt bleiben. 
So im Wesentlichen Stein's Entwürfe für eine Reform an Haupt und 
Gliedern — das Größte und Kühnste, was der politische Idealismus der 
Deutschen je gedacht hatte. Durch ähnliche Pläne hatte einst Turgot die 
nahende Revolution abzuwenden gehofft, doch der Entwurf des deutschen 
Staatsmannes überbot die Gedanken des Franzosen weitaus in seiner 
bescheidenen Größe, seiner folgerechten Bestimmtheit, seiner Schonung für 
den historischen Bestand. Der König war mit Allem einverstanden, am we- 
nigsten mit der Berufung der Reichsstände. Nicht als ob er die Beschränkung 
seiner Macht gefürchtet hätte; doch der Lärm der Debatte, die Leidenschaft 
des parlamentarischen Kampfes, die Nothwendigkeit, selber öffentlich auf- 
zutreten, war seiner Schüchternheit peinlich. Aufgewachsen in den Ueber- 
lieferungen eines milden Absolutismus, voll Widerwillens gegen die Sünden 
der Revolution, konnte er von der Unentbehrlichkeit des Repräsentivsystems 
sich noch nicht vollständig überzeugen. In der That schien es fraglich, ob 
die Reichsstände, bei dem kläglichen Zustande der politischen Bildung, 
nicht eher hemmend als fördernd wirken würden. Von dem Adel, der 
doch nach Stein's Entwürfen das mächtigste Glied des Vereinigten Land- 
tags bilden sollte, stand die freie Zustimmung zu einem gerechteren Stener- 
systeme und zu den anderen Neuerungsplänen des Ministers schwerlich 
zu erwarten. Auch die Städter und die Bauern bewiesen nur zu oft, 
wie wenig sie den Reformgedanken der Krone zu folgen vermochten. 
Wenn aber Stein's gewaltiger Wille am Ruder blieb, wenn die Re- 
form, wie er plante, schrittweis vorging, wenn zunächst durch die Auf- 
hebung der gutsherrlichen Polizei die Herrenstellung des Adels auf dem 
flachen Lande zerstört wurde und dann über den befreiten Gemeinden die 
Kreistage und die Provinziallandtage sich erhoben, so durfte er hoffen, 
den König zu der Erkenntniß zu bringen, daß die Berufung einer reichs- 
ständischen Versammlung um der Staatseinheit willen geboten sei als ein 
Gegengewicht gegen die centrifugalen Kräfte der Provinzialstände. Und so 
konnte durch den freien Entschluß der Krone der Uebergang von der ab- 
soluten Monarchie zum Repräsentativsystem vollzogen, dem preußischen 
Staate vielleicht ein Menschenalter tastender Versuche erspart werden. 
Stein baute auf die wachsende Einsicht in dem treuen, gutherzigen Volke. 
Die tiefe Kluft, welche die überfeinerte, weltfremde Bildung der Gelehrten 
von der gründlichen Roheit der Massen trennte, entging seinem Blicke 
nicht; er dachte sie zu überbrücken durch die Neugestaltung des Unterrichts- 
wesens, und nur sein plötzlicher Sturz ließ diese Pläne nicht zur Reife 
kommen. Daß auch dieser Zweig der inneren Verwaltung seinem freien, 
umfassenden Geiste nicht fremd war, hatte er schon vor Jahren in Mün-
	        
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