Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Die Krone und die Stände. 43 
fahrt; er hatte dort den sittlichen und wirthschaftlichen Segen einer weit 
verbreiteten Schulbildung kennen gelernt und fühlte dunkel, daß die 
Lebenskraft der protestantischen Cultur in der Volksschule liegt. Da er 
einsah, daß die gedrückten und verdumpften Volksmassen des Nordostens 
nur durch die Zwangsgewalt des Staates ihrer Roheit entrissen werden 
konnten, so schritt er auch hier der Gesetzgebung aller anderen Großmächte 
entschlossen voraus und legte durch das Schulgesetz von 1717 jedem Haus- 
vater kurzab die Pflicht auf seine Kinder in die Schule zu schicken. Sehr 
langsam hat sich auf dem Boden dieses Gesetzes das preußische Volks- 
schulwesen ausgebildet. Die Entwicklung ward erschwert nicht bloß durch 
die Armuth und Trägheit des Volks, sondern auch durch die Schuld des 
Königs selber; denn alle Volksbildung ruht auf dem Gedeihen selbstän- 
diger Forschung und schöpferischer Kunst, und für dies ideale Schaffen 
hatte Friedrich Wilhelm nur den Spott der Barbaren. 
So, durch die Gemeinschaft schwerer Bürgerpflichten, durch die Ein- 
heit des Beamtenthums und des Heerwesens wurden die Magdeburger 
und Pommern, die Märker und Westphalen zu einem preußischen Volke, 
und Friedrich II. gab nur dem Werke seines Vaters den rechtlichen Ab- 
schluß, als er allen seinen Unterthanen das preußische Indigenat verlieh. 
Aber wie schroff und herrisch auch dies Königthum seine Souveränität 
als einen rocher von bronze jedem Ungehorsam entgegenstellte, das Werk 
der Einigung schritt doch weit schonender vorwärts als im Nachbarlande 
die gewaltsame „Einebnung des französischen Bodens“. Der Staat 
konnte seine germanische Natur nicht verleugnen; ein Zug historischer 
Pietät lag tief in seinem Wesen. Wie er die kirchlichen Gegensätze zu 
versöhnen suchte, so mußte er auch in der Politik eine mittlere Richtung 
einhalten um die Ueberfülle der centrifugalen Kräfte zu beschwichtigen. 
Geduldige Achtung ward den alten Erinnerungen der Landschaften überall 
erwiesen; noch heute prangt der Doppeladler Oesterreichs fast auf jedem 
Ring der schlesischen Städte, und der Schutzheilige Böhmens blickt noch 
von der Glatzer Citadelle auf die schöne Grafschaft hernieder. Jene über- 
müthigen Herren Stände, die dem großen Kurfürsten noch verbieten wollten 
seinen Vater nach calvinischem Brauche zu beerdigen, waren endlich nach 
gewaltigem Ringen in die Reihen der gemeinen Unterthanen herabgedrückt. 
Die Landtage verloren ihre alten Regierungsrechte sowie jeden Einfluß 
auf Staatshaushalt und Heerwesen; doch nachdem dieser Kampf siegreich 
beendigt war, ließ man ihnen den Schein des Lebens. 
Preußens Krone hat bis zum Untergange des heiligen Reiches in allen 
den Landschaften, die sie nach und nach erwarb, nur dreimal eine land- 
ständische Verfassung förmlich aufgehoben: in Schlesien, in Westpreußen 
und im Münsterlande, da dort die Stände den Herd einer staatsfeind- 
lichen Partei bildeten, welche dem Eroberer bedrohlich schien. Ueberall 
sonst kamen die Landtage in die neueren Tage hinüber, ein seltsames
	        
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