Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

624 II. 1. Der Wiener Congreß. 
Sinn. Uns Heutigen erscheint es als ein schwächlicher Gedanke, daß man 
den gefangenen König nicht einfach entthronen, sondern anderswo mit Land 
und Leuten entschädigen wollte; aber diese Entschädigung verstand sich nach 
der Gesinnung jener Tage von selbst, ohne sie wäre der preußische Plan 
den anderen Höfen noch viel ruchloser erschienen. Ein Gelehrter von heute 
mag wohl finden, Friedrich August sei kaum schuldiger gewesen als der 
mit Gnaden überhäufte König von Baiern; Max Joseph selber jedoch und 
sein Talleyrand haben solche Gründe zur Entschuldigung ihres sächsischen 
Schützlings begreiflicherweise nie ausgesprochen. Auch an die angeblichen 
Verdienste der Wettiner um Deutschlands Gesittung dachten die nüchternen 
Geschäftsmänner in Wien niemals. Der Parteigegensatz, der dort heraus- 
trat, war ungleich einfacher. Auf der einen Seite stand der Wunsch 
der jungen deutschen Großmacht, ihrem zerrissenen, bedrohten Gebiete eine 
haltbare Südgrenze zu verschaffen und zugleich der landesverrätherischen 
Gesinnung der Rheinbundshöfe eine heilsame Warnung zu geben; auf 
der anderen Seite der uralte Haß Oesterreichs und Frankreichs gegen den 
Staat, in dem man dunkel den Hort der deutschen Einheit ahnte, und der 
dynastische Neid der kleinen Höfe. Das wettinische Haus war ein „Haus“ 
wie das wittelsbachische und württembergische auch, und in der Wahrung 
der Hausmacht gingen alle Gedanken der kleinen Herren auf. Talleyrand 
verstand binnen Kurzem alle die Kräfte des Widerstandes um sich zu 
sammeln und verhehlte nicht, daß ihm das Loos Friedrich August's weit 
näher am Herzen lag als das Schicksal Polens. Der Rheinische Mercur 
schrieb warnend: in den bourbonischen Lilien sind noch immer die napo- 
leonischen Bienen und Wespen verborgen. Jenes große europäische Bündniß, 
das sich um Frankreichs Banner schaarte, giebt den sächsischen Händeln 
eine weit über den Werth des streitigen Landes hinausgehende historische 
Bedeutung. Der preußische Staat erfuhr abermals, wie zur Zeit der 
schlesischen Kriege, daß die weite Welt ihn zu bekämpfen einig war. 
Der Gefangene von Friedrichsfelde spielte unterdessen nicht unge- 
schickt und sicherlich in gutem Glauben die Rolle der tief gekränkten Un- 
schuld. Er war sein Lebelang gewissenhaft auf dem Boden des positiven 
Rechts geblieben und hatte, so lange das heilige Reich bestand, seine 
reichsfürstlichen Pflichten genau erfüllt. Der Gedanke aber, daß auch ein 
souveräner König von Sachsen sich gegen Deutschland versündigen könne, 
blieb diesem Kopfe unfaßbar. Im Sommer 1814 ließ er dem Czaren 
eine Denkschrift überreichen; sie zählte in vollem Ernst die Entschädigungen 
auf, welche Sachsen von Preußen zu verlangen habe! Der König ohne 
Land forderte von dem Sieger großmüthig nur den Beeskow-Storkower 
Kreis, einige preußische Enclaven und Begünstigungen für den sächsischen 
Handel; außerdem Ersatz für Warschau. Wie läppisch dies Machwerk er- 
scheinen mochte, es bildete doch den passenden Uebergang zu einer zweiten 
Denkschrift, die im Juli zu Nürnberg mit Genehmigung der bairischen
	        
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