Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

630 II. 1. Der Wiener Congreß. 
auszuliefern! Noch mehr. Der Lord forderte, sämmtliche in der polnischen 
Sache gewechselten Schriftstücke sollten dem Congresse vorgelegt, alle 
europäischen Staaten aufgefordert werden den Plänen Rußlands ent— 
gegenzutreten. In seinem blinden Eifer nahm er also harmlos Talley— 
rand's Vorschläge wieder auf und wollte, den Verträgen entgegen, alle 
Kleinstaaten in die polnischen Händel hineinziehen; das hieß Frankreich 
zum Schiedsrichter Europas erheben! In einer dritten Denkschrift vom 
4. November gestattete er sich vollends eine Sprache, wie sie sonst nur 
dicht vor Ausbruch eines Krieges gehört wird. Er erklärte, die Ansichten 
des Czaren „würfen alle zwischen den Staaten hergebrachten Grundsätze 
von Treu und Glauben zu Boden“, und betheuerte nochmals: ein russi— 
scher Kaiser, der bis zur Prosna herrsche, werde nach Belieben seine Heere 
an die Donau und die Oder werfen, Oesterreich und Preußen völlig in 
Schach halten. 
Es war, als ob der Lord den Czaren zum äußersten Widerstande 
aufreizen wollte. In der That fühlte sich Alexander tief beleidigt und 
gab in zwei Denkschriften (vom 30. October und 21. November) eine 
schroff ablehnende Antwort. In hochtrabenden Worten entwickelte er die 
Anschauungen, welche seitdem in der halbamtlichen russischen Geschicht— 
schreibung herrschend geblieben sind: Rußland konnte im Frühjahr 1813 
leicht einen glorreichen Frieden schließen und hat nur um Europas willen 
den Kampf weiter geführt; die geforderte Vergrößerung ist für die Nach— 
barn nicht bedrohlich, aber nothwendig um die Russen wie die Polen zu 
beruhigen. Dazu eine wohlverdiente Abfertigung für den Lord: ein Ver— 
mittler ist nur dann nützlich, wenn er die Geister einander näher führt! — 
Ging man auf solchem Wege weiter, so trieb die nach Frieden schmachtende 
Welt einem neuen Kriege entgegen. 
Währenddem ward dem preußischen Staatskanzler doch unheimlich 
inmitten seiner sonderbaren Bundesgenossen. Er sah den britischen Ver— 
mittler Forderungen aufstellen, die mit Preußens eigener Ansicht nichts mehr 
gemein hatten, und war noch immer nicht sicher, ob seine treuen Freunde ihn 
bei seinen sächsischen Plänen unterstützen würden. Hardenberg beschloß also 
sich Gewißheit zu verschaffen und sendete am 9. October einen warmen 
und treuherzigen Brief an Metternich: Preußen will dem weisen Systeme 
d'une Europe intermèédiaire (d. h. dem engeren Bund der drei „deutschen“ 
Großmächte) treu bleiben, muß aber in seiner unsicheren Lage zunächst an 
seine eigenen Interessen denken und fordert daher offene Antwort auf 
folgende drei Fragen: stimmt Oesterreich der Einverleibung von ganz 
Sachsen zu? genehmigt die kaiserliche Regierung die Versetzung Friedrich 
August's nach den Legationen? verzichtet sie auf den Gedanken Mainz an 
Baiern auszuliefern? (Ueber diese Absicht Oesterreichs, welche Hunboldt 
noch vor zwei Monaten nicht gekannt, war also Hardenberg endlich in's Klare 
gekommen.) Wenn die kaiserliche Regierung diese drei Fragen bejaht und
	        
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