86 I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
und vergaß, daß nur neue schwere Arbeit das Werk unsäglicher Mühen
aufrechthalten konnte. Als aber die Tage der Schande und der Prüfung
kamen, da hat Preußen wieder die langnachwirkende segenspendende Macht
des Genius erfahren; die Erinnerung an Roßbach und Leuthen war die
letzte sittliche Kraft, welche das lecke Schiff der deutschen Monarchie noch
über dem Wasser hielt; und als der Staat dann nochmals die Waffen
zum Verzweiflungskampfe hob, da sah ein süddeutscher Dichter die Gestalt
des großen Königs aus den Wolken niedersteigen und dem Volke zurufen:
„Auf, meine Preußen, unter meine Fahnen! und ihr sollt größer sein
als eure Ahnen!“
Unterdessen hatte das deutsche Volk mit einer jugendlichen Schnell—
kraft, die in der langsamen Geschichte alter Völker einzig dasteht, eine
Revolution seines geistigen Lebens vollendet; kaum vier Menschenalter
nach der trostlosen Barbarei des dreißigjährigen Kriegs erschienen die
schönsten Tage deutscher Kunst und Wissenschaft. Aus den starken Wur—
zeln der Glaubensfreiheit erwuchs eine neue weltlich freie Bildung, die
den verknöcherten Formen der deutschen Gesellschaft ebenso feindlich gegen—
überstand wie der preußische Staat dem heiligen römischen Reiche. Bei
allen anderen Völkern war die classische Literatur ein Kind der Macht
und des Reichthums, die reife Frucht einer alten durchgebildeten natio—
nalen Cultur; Deutschlands classische Dichtung hat ihr Volk erst wieder
eingeführt in den Kreis der Culturvölker, ihm erst die Bahn gebrochen
zu reinerer Gesittung. Niemals in aller Geschichte hat eine mächtige
Literatur so gänzlich jeder Gunst der äußeren Lebensverhältnisse entbehrt.
Hier bestand kein Hof, der die Kunst als eine Zierde seiner Krone hegte,
kein großstädtisches Publikum, das den Dichter zugleich ermuthigen und
in den Schranken einer überlieferten Kunstform halten konnte, kein
schwunghafter Handel und Gewerbfleiß, der dem Naturforscher fruchtbare
Aufgaben stellte, kein freies Staatsleben, das dem Historiker die Schule
der Erfahrung bot; selbst die große Empfindung, die aus großen Erleb—
nissen stammt, kam den Deutschen erst durch Friedrich's Thaten. Recht
eigentlich aus dem Herzen dieser Nation des Idealismus ward ihre neue
Dichtung geboren, wie einst die Reformation aus dem guten deutschen
Gewissen hervorging. Die Mittelklassen lebten dahin, fast gänzlich aus—
geschlossen von der Leitung des Staates, eingepfercht in die Langeweile,
den Zwang und die Armuth kleinstädtischen Treibens, und doch in so
leidlich gesicherten wirthschaftlichen Verhältnissen, daß der Kampf um das
Leben noch nicht das Leben selber dahinnahm und die wilde Jagd nach
Erwerb und Genuß dem befriedeten Dasein noch völlig fremd blieb.
Unter diesen unbegreiflich genügsamen Menschen erwacht nun die leiden—
schaftliche Sehnsucht nach dem Wahren und dem Schönen. Ihre guten