94 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
Wortführer der nationalkirchlichen Bestrebungen Heinrich Wessenberg hatte
bereits deutschen Kirchengesang in seiner Konstanzer Diözese eingebürgert;
die Protestanten betrachtete er duldsam „als die Kirche linker Seite“. Be—
hutsamer trat Sailer dem römischen Stuhle gegenüber, der ehrwürdige
Prälat, der durch Beispiel und Lehre die lebendige Frömmigkeit in der
katholischen Kirche Bayerns wieder wach rief. Aber auch er trug kein Be—
denken, sich öffentlich auf die Schriften protestantischer Theologen zu be—
rufen; er lebte in herzlicher Freundschaft mit vielen gläubigen Protestanten
und teilte mit ihnen die Verehrung für Thomas a Kempis, der erst durch
Sailers Ubersetzung den katholischen Gemeinden wieder bekannt wurde.
Auch Overberg, der streng katholische Erzieher des Lehrerstandes im Mün-
sterlande gewann sich durch seine apostolische Milde die Verehrung Steins;
und die nicht minder kirchlich gesinnten Boisserees, denen die Kunst nur
als die Tochter der Religion erschien, behielten doch immer Fühlung mit
den Arbeiten der protestantischen Wissenschaft. Wie diese Männer den
Anschauungen der evangelischen Pietisten nahe standen, so hatte anderer-
seits der Bonner Theolog Hermes sich die Methode des protestantischen
Rationalismus angeeignet und unternahm den unmöglichen Versuch, das
katholische Dogma auf die Vernunftbeweise der Kantischen Philosophie zu
stützen. Seine Anhänger beherrschten die Unterrichtsanstalten am Rhein
und bemühten sich redlich den konfessionellen Frieden zu wahren.
Welch ein Abstand zwischen den Gedanken dieser Friedfertigen und
den herrschsüchtigen Plänen des römischen Stuhls. Kaum war Pius VII.
in die ewige Stadt zurückgekehrt, so stellte er am 7. August 1814 durch
die Bulle Sollicitudo omnium ecelesiarum den Jesuitenorden wieder her
und las selber die Messe im Gesü, vor dem Altar des heiligen Ignatius,
dort wo der Meißel Le Gros' den Triumph der Kirche über die Ketzerei
in prahlerischen Bildwerken verherrlicht hat. Als ihn Zar Alexander nach-
träglich einlud der heiligen Allianz beizutreten, wies der Papst die schwer-
lich ernsthaft gemeinte Zumutung mit dem ganzen Stolze des recht-
mäßigen Weltherrschers zurück. Bald nachher wurde auch die Inquisition
und der Index der verbotenen Bücher wieder eingeführt, die Bibelgesell-
schaften für Teufelswerk erklärt. Die alte Kirche hatte in den Tagen der
revolutionären Bedrängnis bewunderungswürdigen sittlichen Mut bewährt
und abermals erfahren, daß ihr aus dem Leiden die größte Kraft erwuchs.
Jetzt stand sie strahlend in der Glorie des Martyriums; die romantische
Sehnsucht der öffentlichen Meinung und die Furcht der Höfe vor der
Revolution kamen ihr zu statten. Selbst in dem antipapistischen England
durfte, zum ersten Male seit Jakob II., wieder ein Kardinal in seiner geist-
lichen Tracht erscheinen. Der selbstgefällige Wahn jener aufgeklärten Leute,
welche das neue Jahrhundert den Leidenschaften der Religionskriege ent-
wachsen glaubten, war soeben erst durch den Freiheitskampf der Spanier
handgreiflich widerlegt worden; und nun brach, noch während die Monarchen