Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

K. v. Rotteck. 99 
krankhafte Sprachverwirrung, die bis zum heutigen Tage das deutsche Par— 
teileben verfälscht. Man begann zu glauben, was unmittelbar nach dem 
heiligen Kriege noch niemand zu behaupten gewagt hatte: daß rationalistische 
oder gar kirchenfeindliche Gesinnung das untrügliche Kennzeichen des poli— 
tischen Liberalismus sei; man bezeichnete beides mit dem wohllautenden 
Namen der Freisinnigkeit und zwang also die konservativen Regierungen 
sich den streng kirchlichen Parteien zu nähern. Noch verderblicher wirkte das 
arge Beispiel eines aufgeklärten Gesinnungsterrorismus, der überall nur 
Pfaffenherrschsucht, Adelsstolz oder Liebedienerei suchte und nachher in der 
Gehässigkeit der Demagogenverfolgungen die natürliche Erwiderung fand. — 
Dieselbe engherzige Unduldsamkeit beseelte auch den einflußreichsten 
Publizisten jener Tage. Karl von Rotteck blieb zwei Jahrzehnte hindurch 
der hochangesehene politische Lehrer des süddeutschen Bürgertums, weil 
er weder die Kraft noch die Neigung besaß sich irgendwie über die Durch— 
schnittsansicht der Mittelklassen zu erheben. Obgleich der Rechtschaffene 
niemals um Volksgunst buhlte, so standen seine Anschauungen doch immer 
von selbst im Einklang mit dem „gebietenden Zeitgeist“. Er nahm den 
wohlhabenden Kleinstädtern und Bauern des Südens das Wort von den 
Lippen und verkündete was alle dunkel empfanden mit unerschütterlichem 
Mute, mit der warmen Beredsamkeit eines ehrlichen Herzens. Dem fran— 
zösischen Blute seiner Mutter verdankte er eine unter den deutschen Ge— 
lehrten damals noch seltene Leichtigkeit des Ausdrucks; unermüdlich wen— 
dete er den überaus bescheidenen Vorrat seiner Gedanken hin und her, 
bis den Lesern alles wasserklar und unanfechtbar erschien. Die demokra— 
tischen Ideen, welche einst zur Zeit des Bastillesturmes in Oberdeutsch— 
land eingedrungen, hatten sich unterdessen in der Stille verstärkt und weit— 
hin verbreitet; durch die Fürstenrevolution der napoleonischen Zeit war 
die gesamte altgeschichtliche Staatsordnung völlig zerstört, in den Mittel— 
klassen aber wuchs von Jahr zu Jahr der Groll gegen die Willkür des 
rheinbündischen Beamtentums. Aus solchen Gedanken und Wünschen 
formte Rotteck, merkwürdig früh, schon unmittelbar nach dem Friedens— 
schlusse, das fertige Idealbild seines konstitutionellen Musterstaates. Er 
rühmte sich ganz auf der Höhe der Zeit zu stehen und ahnte nicht, wie 
stark die altständischen Vorstellungen, die in der Nation mit wunderbarer 
Zähigkeit fortlebten, auch auf seine Doktrin einwirkten; ganz wie die Herren 
Stände der guten alten Zeit betrachtete er die Staatsgewalt als den natür— 
lichen Feind der Freiheit. Wer ihm nicht glaubte, dem „war ein Lächeln 
vom Ministertische, ein Kreuz und ein Band oder eine Anstellung lieber 
als das Gemeinwohl“. Neben Savigny und Niebuhr erschien Rotteck als 
ein wissenschaftlicher Reaktionär, da die Grundgedanken seiner Theorie durch— 
aus dem achtzehnten Jahrhundert angehörten; nur zog er mit großer Ge— 
wandtheit aus diesen veralteten Sätzen einige Folgerungen, welche dem 
praktischen Bedürfnis der Gegenwart in der Tat entsprachen. Ein Partei— 
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