100 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
mann vom Wirbel bis zur Zehe, von jeher gewohnt, die Menschen und
die Dinge lediglich mit dem Zollstock der politischen Doktrin zu messen, hatte
er die große Zeit unserer Literatur ohne jedes tiefere Verständnis durchlebt;
die Freiheitsbegeisterung des Marquis Posa blieb ihm die Krone der deut-
schen Dichtung, was konnte der Fürstendiener Goethe daneben aufweisen?
Gleichwohl vermochte selbst dieser politische Eiferer den literarischen
Ursprung des deutschen Liberalismus nicht zu verleugnen; denn auch er
fühlte sich unwiderstehlich hingezogen zu jenem Franzosen, der unter den
Vorläufern der Revolution der schwächste politische Kopf, aber auch der
gemütvollste Künstler und deshalb der deutschen Bildung am vertrautesten
war. Von Rousseau lernte er die Lehren der Volkssouveränität und der
allgemeinen Gleichheit, sowie den kindlichen Glauben an die natürliche
Unschuld des Menschen. Diese Ideen versuchte er dann mit Hilfe des
Kantischen Naturrechts, das ja selbst den Anschauungen des Genfer Philo-
sophen nahe stand, in ein System zu bringen, obgleich er die Philosophie
nur als die Auslegerin des gesunden Menschenverstandes schätzte. Die dritte
Quelle seiner Doktrin war das Buch des Hontheim-Febronius über die
gesetzliche Gewalt des Papstes. Hier fand Rotteck ein eigentümliches
Gemisch von Aufklärungseifer und katholischer Glaubenstreue, das seiner
eigenen Gesinnung entsprach; hier auch das Vorbild für die Methode seiner
künstlichen politischen Beweisführung. Wie jener wohlmeinende Vorkämpfer
des nationalkirchlichen Gedankens die letzten Jahrhunderte der Kirchen-
geschichte kurzerhand ausstrich, dem Papste nur einige bescheidene Ehren-
rechte zuwies und dabei doch keineswegs gemeint war das Papsttum selber
anzugreifen, so entkleidete Rotteck das Königtum aller seiner wesentlichen
Befugnisse und glaubte doch nicht antimonarchisch gesinnt zu sein. In
aller Unschuld, ohne jeden revolutionären Hintergedanken predigte er eine
radikale Theorie, welche mit dem Bestande des deutschen Staatswesens
sich schlechterdings nicht vereinigen ließ.
Der Sohn eines ehrenfesten Altösterreichers war er im schönen Breis-
gau aufgewachsen, zu der Zeit, da die Reformen Josephs II. die Begei-
sterung der aufgeklärten Vorderösterreicher erweckten. Jenes System ge-
waltsamer Völkerbeglückung galt ihm immer als wahrhaft liberale Politik.
Dann hatte er voll Schmerz mit angesehen, wie sein Heimatland mit
Baden vereinigt wurde, und lebte nun unter einer Regierung, die er noch
lange mißtrauisch als eine halbfremde betrachtete, in einem Staate ohne
Geschichte, dessen Institutionen allerdings wie Werke des Zufalls oder der
bewußten Willkür erschienen. Seine ehrliche Liebe zum deutschen Vater-
lande sprach er selbst unter dem Drucke der napoleonischen Zensur mann-
haft aus; als die Befreier in Baden einzogen, übernahm er sofort die
Leitung der Teutschen Blätter und stellte sie dem Hauptquartiere der Ver-
bündeten zur Verfügung. Ganz wohl ward ihm dennoch nur inmitten
seiner alemannischen Landsleute; ihnen zuerst galt all sein Tun und