106 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
Vornehmlich sprach der Groll gegen die Hochgeborenen aus vielen Werken
der neuen Dichtung, so aus Emilia Galotti, aus Kabale und Liebe. Nament—
lich unter den Genossen des Hainbundes war diese Gesinnung tief ein—
gewurzelt. Wer des Pfarrers Tochter von Taubenheim und ähnliche Ge—
dichte Bürgers las, der mochte glauben, daß die Verführung armer Mäd—
chen die Hauptbeschäftigung des deutschen Edelmannes bilde; Voß aber,
der Nachkomme mecklenburgischer Leibeigener, hegte von Kindesbeinen an
unauslöschlichen Haß gegen die Junker und ließ mit unverhohlenem Be—
hagen seinen Bauer Michel über die Adligen sagen: „Schelme sind sie
und wert am höchsten Galgen zu bummeln!“
Mit Frohlocken wurde die Nacht des vierten August und alle die
anderen Schläge, welche die Revolution gegen den Adel führte, in unseren
literarischen Kreisen begrüßt. Seitdem war auch die Macht des deutschen
Adels tief erschüttert worden; er hatte durch den Reichsdeputationshaupt—
schluß seinen Anteil an der Reichsregierung vollständig, durch die Stein—
Hardenbergischen Reformen und die Gesetze des Rheinbundes seine Herren—
stellung auf dem flachen Lande größtenteils eingebüßt. Noch blieben ihm
manche Vorrechte, welche das Selbstgefühl des Bürgertums verletzten. In
den altständischen Kleinstaaten des Nordens, Sachsen, Hannover, Meck—
lenburg beherrschte er noch Regierung und Landtag; hier bestanden zumeist
noch die adligen Bänke der obersten Gerichtshöfe; auch in den alten preu—
ßischen Provinzen kamen die Patrimonialgerichte und die gutsherrliche Polizei
wesentlich der Macht des Adels zugute, da die bürgerlichen Ritterguts—
besitzer noch die Minderheit bildeten. Im Heere und im Zivildienst wurde
der Adel noch überall tatsächlich bevorzugt; die persönliche Umgebung der
Fürsten bildete er allein, und höhnend rief Voß: „der Edelmann ist ja
geborener Kurator des Marstalls, der Jagd, des Schenktischs, der Ver—
gnügungen.“ Nach dem Sturze des gekrönten Plebejers trat der Adels—
hochmut oft sehr herausfordernd auf; sogar Niebuhr klagte, noch nie seit
vierzig Jahren habe der Edelmann den Bürgerlichen so abgünstig behandelt.
Hartnäckig hielt der amtliche Sprachgebrauch den abgeschmackten Titel
Demoiselle für die bürgerlichen Mädchen fest. Auch aus den Hofrang—
ordnungen der kleinen Höfe sprach ein lächerlicher Kastenhochmut. Selbst
der höchste Staatsbeamte durfte seine bürgerliche Frau nicht zu Hofe führen;
in Hessen konnten die Minister nur durch die Verwendung des adligen
Flügeladjutanten Gehör beim Landesherrn erlangen. Das Theater in
Weimar hatte seine adligen Logen, und im Speisesaale des Pillnitzer
Schlosses sahen die Adligen und die Bürgerlichen von zwei gesonderten
Tribünen den Gastmählern des Königs zu. In den Augen der Voll—
blut-Junker galten nur die Berufe des Offiziers, des Kammerherrn, des
Stallmeisters, des Forstmanns und allenfalls noch der Verwaltungsdienst
für standesgemäß. Die Wissenschaften und Künste durfte der Edelmann
nur als Liebhaberei treiben; ganz Breslau geriet in Aufregung, als ein