Der konstitutionelle Musterstaat. 109
mehr übrig, mit der Betrachtung eines der neununddreißig souveränen
Einzelstaaten mochte sich niemand begnügen, also verfielen alle politischen
Schriftsteller unwillkürlich in die Abstraktionen des sogenannten allge—
meinen konstitutionellen Staatsrechts. So dreist wie Rotteck trat doch
keiner die historische Welt mit Füßen. Der aufgeklärte Mann unter—
schied ein dreifaches Recht: das vergangene, das heute geltende und „das
Recht, das gelten sollte“; das letztere ward ohne Federlesen als „das
edelste, ja im Grunde das alleinige Recht“ gepriesen, das historische Recht
als historisches Unrecht abgefertigt. Als einzige Regel für den Staat galt
mithin das Vernunftrecht, das will sagen: das persönliche Belieben des
Freiburger Professors und seiner französischen Lehrer; allerdings, fügte er
bescheiden hinzu, könne die Wirklichkeit der philosophischen Theorie immer
nur annähernd entsprechen.
Wie einst Sieyes das Feuer der Rousseauschen Volkssouveränität mit
dem Wasser der Montesquieuschen Gewaltenteilung verschmolzen hatte,
so suchte Rotteck die Doktrin des Contrat social durch einige Begriffe des
monarchischen Staatsrechts zu verdünnen; nur stand er noch weit mehr
als jener französische Verfassungskünstler unter dem Einfluß des Genfer
Philosophen. Kurz und gut, ganz in Rousseaus Weise, erklärte er das
Volk für den natürlichen Inhaber der Staatsgewalt, die Regierung für
das künstliche Organ des Gesamtwillens, das alle seine Rechte allein
der Übertragung verdanke. Darum gebührt dem Volke unter allen Um—
ständen die gesetzgebende Gewalt, sonst geht seine Persönlichkeit verloren;
die Landstände aber können alle die Rechte ausüben, welche sich das Volk
bei der Übertragung der Regierungsgewalt, nach vernünftiger Mut—
maßung, stillschweigend vorbehalten hat. Darum ist auch das Zweikammer—
system ein Unrecht, es sei denn, daß die erste Kammer ebenso viele Staats—
aktien, an Kapital und Grundvermögen, vertritt wie die zweite. Das
Volk, natürlich, weiß immer was es will und will stets das Beste; „wo
der Volkswille herrscht, da können Verhältnisse, die gegen das natürliche
Recht streiten, gar nicht aufkommen.“ Mit diesen republikanischen Ideen
verbanden sich dann einige altständische Vorstellungen: so soll der Abge—
ordnete nur seinen eigenen Wahlbezirk vertreten, da er ja von den anderen
keinen Auftrag empfangen hat. Alle solche Widersprüche erklären sich aus
dem einen beherrschenden Gedanken: aus der Absicht, den Schwerpunkt
des Staatslebens überall nach unten zu verlegen. Einen Unterschied zwi—
schen Sassen und Hintersassen wollte Rotteck, getreu der Weltanschauung
seiner Breisgauer Bauern, zur Not zugeben; doch führte seine Lehre
folgerecht unzweifelhaft zum allgemeinen Stimmrecht. Und in der Tat
hatte der Berliner Historiker Woltmann schon im Jahre 1810 in seinem
„Geist der neuen preußischen Staatsorganisation“ diese letzte Forderung
ausgesprochen.
So mächtig wirkte die abstrakte Doktrin auf dieses treu gehorsame,