112 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
Ideen empfänglich war, hielt sich lieber an den bequemeren Katechismus
des Rotteckschen Vernunftrechts.
Beiden Richtungen des Liberalismus stand, durch eines Himmels Weite
getrennt, der gefürchtete Restaurator der Staatswissenschaft Karl Ludwig
von Haller gegenüber. Der Berner Aristokrat hatte die Macht seiner Stan—
desgenossen vor den Gewaltstreichen der Revolution zusammenbrechen sehen
und dann in der Verbannung, im österreichischen Dienste, sich das poli—
tische System gebildet, das „die Monarchie wieder auf ihrem wahren Grunde
erbauen, die anmaßende revolutionäre Wissenschaft des gottlosen achtzehnten
Jahrhunderts zu Schanden machen und die katholische Kirche mit einem
neuen Glanze“ erleuchten sollte. Mit dem stolzen Bewußtsein eines welt—
historischen Berufs verkündete er seine Lehre, erst in der Allgemeinen Staats-
kunde (1808), dann, seit 1816, in der Restauration der Staatswissenschaft;
es schien ihm wie eine übernatürliche Fügung, daß gerade ihm, dem ge-
borenen Republikaner und Protestanten, die antirevolutionäre Heilswahrheit
aufgegangen sei. Und allerdings mit zermalmender Wucht fielen die dialek-
tischen Keulenschläge seines harten Menschenverstandes auf die Phantasie-
gebilde der Naturrechtslehre. Erst die handfesten Beweisgründe dieses pol-
ternden Naturalisten erschütterten den Glauben an den Naturzustand, an den
Staatsvertrag und die ursprüngliche Volkssouveränität auch in den Kreisen
jener Ungelehrten, welche den feinen Gedanken der historischen Rechtsschule
nicht folgen konnten. Was er freilich selber an die Stelle dieser überwun-
denen Doktrin setzte war nur eine grobe Verallgemeinerung der patrimo-
nialen Rechtsgrundsätze der alten Berner Aristokratie. Wie einst die Herren
von Bern ihre eroberten Untertanenlande im Aargau und im Waadtland
kurzweg als das Eigentum ihrer siegreichen Republik behandelt hatten, so
begründete Haller den Staat schlechthin auf das Recht des Stärkeren. Das
Land gehört einem Fürsten, einer Korporation oder einer Kirche; auf diesem
Eigentum des Landesherrn und unter seinem Schutze siedelt sich das Volk
an; verschwände das Volk, so wäre der Staat immer noch vorhanden in der
Person des Fürsten, der leicht neue Untertanen finden kann. Der Staat
erscheint mithin als eine privatrechtliche Genossenschaft wie andere auch, nur
mächtiger, selbständiger als sie alle, der Fürst als „ein begüterter, voll-
kommen unabhängiger Mensch“; er beherrscht das Volk durch seine persön-
lichen Diener, ist berechtigt wie verpflichtet sich selber und sein Haus als den
Hauptzweck des Staates zu betrachten, muß aber auch den Aufwand aus
seinem eigenen Vermögen bestreiten und die Untertanen durch seine eigenen
Soldaten beschützen. Ein Zerrbild des alten ständischen Staates, wie es in
solcher Roheit selbst im vierzehnten Jahrhundert nirgends bestanden hatte,
ward also mit der gleichen Unfehlbarkeit, wie einst die Musterverfassungen
der Revolution, als das allgemeingültige Staatsideal hingestellt; die staats-
rechtliche Unterordnung des Bürgers sank zur privatrechtlichen Dienst-
barkeit herab. Der Restaurator hob in Wahrheit den Staat selber auf.