Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

14 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre. 
Weinstube von Lutter und Wegner die ganze Nacht hindurch ihre tollen 
Bacchanale feierten, oder wenn Lobeck und die Königsberger Philologen 
mit Rosenkränzen im Haar beim Griechenweine zusammenlagen und in 
hellenischer Sprache von den Helden Homers, von dem glücklichen Eiland 
der Phäaken redeten. Der gesellige Verkehr bot, bei aller Ziererei und 
Überschwänglichkeit, die mit unterlief, doch eine Fülle edler geistiger Ge- 
nüsse, von denen in der Langeweile und dem öden Prunk der heutigen 
Gesellschaft fast allein die Musik übrig geblieben ist. Die Frauen, die 
in jenen Jahren jung gewesen, erschienen noch im hohen Alter dem nach- 
wachsenden nüchterneren Geschlechte wie verklärt durch einen poetischen 
Zauber, sie gewannen alle Herzen mit ihrer unverwüstlichen Liebenswür- 
digkeit, ihrem feinsinnigen Verständnis für alles menschliche. 
Freilich verrieten sich auch schon die Spuren des beginnenden Ver- 
falls. Die Literatur war längst ins Kraut geschossen; sie bot sich den 
Lesern an, während einst die klassischen Dichter immer nur herausgesagt 
hatten, was der Nation schon halb bewußt in der Seele lag. Eine Masse 
trivialer Unterhaltungsschriften suchte die Neugier und die Sinnlichkeit 
der Lesewelt auszubeuten; tiefere Naturen verfielen, da sich in keinem 
Zweige der Dichtung ein nationaler Stil ausgebildet hatte, leicht auf will- 
kürliche, gewaltsame Experimente, so daß Goethe diese Jahre als die Epoche 
der forcierten Talente bezeichnete. Die modische Vermischung von Poesie 
und Kritik erleichterte dem unfruchtbaren Dilettantismus sich anmaßlich 
vorzudrängen. Wer in den Kreisen der Romantik verkehrte, die Schlag- 
wörter der Schule nachsprach und zuweilen an dem Plane eines Dramas 
oder eines Epos grübelte, der hielt sich für einen Dichter und vergaß 
das Bewußtsein seines Unvermögens über dem beliebten Troste: „das 
Dichten und Trachten“ mache den Künstler, und Rafael wäre, auch ohne 
Hände geboren, der größte aller Maler gewesen. Das frevelhaft miß- 
brauchte Wort Genie ward ein Freibrief für jede Narrheit, jeden Uber- 
mut. Bei dem geistreichen Spielen mit neuen Ideen und überraschenden 
Gesichtspunkten ging der schlichte Menschenverstand leicht zugrunde. Der 
Glaube an das schrankenlose Recht der souveränen Persönlichkeit, der all- 
gemeine Drang nur ja den anderen Menschen nicht zu gleichen, verführte 
die Einen zu sittlicher Willkür, Andere zur eitlen Selbstbespiegelung. Man 
belauschte mit nervöser Empfindsamkeit jeden Atemzug der eigenen schönen 
Seele. In den Briefen von Gentz und den Aufzeichnungen der Rahel 
Varnhagen spielt das Barometer die Rolle des geheimnisvollen Dämons, 
der dem Genie die finsteren und die lichten Stunden schenkt. 
Die Literatur beherrschte die Gedanken der Nation noch so vollständig, 
daß sogar die großen Gegensätze des politischen und des kirchlichen Lebens 
oft in gelehrten Streitigkeiten ihren Ausdruck fanden. So in den Kämpfen 
von Savigny und Thibaut, Voß und Stolberg. Wenn Gottfried Her- 
mann gegen Creuzer und die Symboliker zu Felde zog, so fühlte er sich
	        
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