228 II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.
Lobsprüchen zu überhäufen, die von der strengen Zucht der Linie seltsam
abstachen. Im Volke hatten sich die alten Märchen von den Landwehr-
schlachten des Befreiungskrieges allmählich fest eingenistet; die Landwehr
galt als das eigentliche Volksheer, als die feste Säule der preußischen
Macht; alle Welt strömte in festlichem Jubel zusammen wenn sie ihre
Ubungen hielt, und die Bureaukratie teilte diese Vorliebe, da ein großer
Teil der Landwehroffiziere aus dem Beamtentum hervorging.
Dem sicheren Soldatenblicke des Königs entging gleichwohl nicht, wie
viel dieser volkstümlichen Truppe noch zur vollen Kriegstüchtigkeit fehlte;
selbst General Kleist und andere Freunde der Landwehr konnten dem Kriegs-
herrn nicht verhehlen, daß die Reiterei wenig genügte und auch das Fuß-
volk bei größeren Ubungen nur unter der Leitung abkommandierter Linien-
offiziere Tüchtiges leistete.) Und doch mußte die Reservearmee, wegen
der Kleinheit des Linienheers, beim Ausbruch eines Krieges sofort gegen
den Feind geführt werden. Was im Sommer 1813 nur die äußerste
Not erzwungen hatte, sollte jetzt die Regel bilden. Trat die Mobilmachung
ein, so ward die Feldarmee sofort auf 298,000 Mann verstärkt, wovon
die größere Hälfte (sieben Jahrgänge unter zwölf) aus Landwehren ersten
Aufgebotes bestand; selbst wenn nur eine diplomatisch-militärische Drohung
beabsichtigt war, sah sich der Staat gezwungen sogleich alle Wehrpflichtigen
bis zum zweiunddreißigsten Lebensjahre hinauf unter die Fahnen zu rufen,
tausende von Familien ihrer Ernährer zu berauben, das gesamte bürger-
liche Leben schwer zu schädigen. Zwar mußte, bei dem schwerfälligen
Verkehre jener Zeit, der größte Teil des Heeres volle fünf Wochen auf
dem Marsche verbringen bevor er den Feind erreichen konnte; aber genügte
diese kurze Frist um die mangelhafte Ausbildung der Landwehrrekruten
zu ergänzen? Und wie viel ungünstiger hatte sich doch die militärische
Lage des Staatsgebietes gestaltet; der Staat war nicht mehr durch seine
alten Vorlande, Polen und das Rheingebiet, gegen den ersten Ansturm
der Feinde gedeckt, er grenzte jetzt unmittelbar an drei Großmächte. Grundes
genug zu schweren Bedenken. Unablässig, in tiefer Besorgnis, suchte der
König nach der rechten Antwort auf alle die militärischen, politischen und
volkswirtschaftlichen Fragen, welche das große Problem der allgemeinen
Wehrpflicht umfaßte, und besprach sich darüber mit dem getreuen Witz-
leben. An dem häßlichsten Mangel des neuen Systems, an der Unmög-
lichkeit, die gesamte Jugend durch die Schule des Heeres gehen zu lassen,
ließ sich leider für jetzt nichts ändern; eine so beträchtliche Vermehrung
der Linie konnte weder der Staatshaushalt noch der Volkswohlstand er-
tragen. Aber gab es kein Mittel um die Landwehr schon im Frieden so
fest mit der Linie zu verbinden, daß die Feldarmee nicht mehr in zwei
ganz ungleichartige Hälften zerfiel? Die Organisatoren des preußischen
*) Kleists Bericht an den König über die Landwehrübungen in Sachsen, 24. Nov. 1817.