240 II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.
Evangelicorum des Reichstages beiden protestantischen Kirchen gemeinsam.
Sie unterdrückten das Lästern und Schelten der lutherischen Kanzelredner
durch strenge Strafen und durch das Beispiel ihrer eigenen Duldsamkeit;
sie suchten aus der Dogmatik der beiden Kirchen alles zu entfernen was der
Schwesterkirche Anstoß geben konnte, und wie sie die harte Lehre von der
Gnadenwahl in das Bekenntnis ihrer reformierten Landeskirche niemals auf—
nahmen, so setzten sie auch nach schweren Kämpfen durch, daß die Lutheraner
auf die Austreibung des Teufels verzichteten. Schon Friedrich Wilhelm J.
wollte einen Unterschied zwischen Lutheranern und Reformierten überhaupt
nicht mehr anerkennen; das seien dumme Possen, meinte er kurzab. Das
Landrecht verpflichtete beide Kirchen, ihre Genossen im Notfall wechsel—
seitig zum Sakramente zuzulassen. Bei der Neuordnung der Verwaltungs-
behörden im Jahre 1808 wurden sodann die sämtlichen lutherischen
Konsistorien sowie das Kreformierte irchendirektorium aufgehoben und die
Kirchenangelegenheiten aller drei Konfessionen einer besonderen Abteilung
der Bezirksregierungen überwiesen. Rücksichten der Sparsamkeit gaben
damals den Ausschlag. Indes erkannte der König bald, daß das Kirchen-
regiment selbständiger Organe nicht entbehren konnte, und stellte daher
durch die Kabinettsordre vom 30. April 1815 die Provinzialkonsistorien
wieder her, aber als gemeinsame Behörden für beide evangelische Kirchen.
Auch die am 2. Januar 1817 neu gebildeten Synoden bestanden aus
Geistlichen beider Bekenntnisse. Schritt für Schritt näherte man sich also
der Bildung einer großen evangelischen Landeskirche.
Von Jugend auf, dank seinem Lehrer Sack, hatte Friedrich Wilhelm
den Gedanken der Union mit Liebe ergriffen. Tief gemütlich wie er sein
Verhältnis zu seinen Untertanen auffaßte, empfand er es als ein schweres
Unglück, daß er trotz dem gemeinsamen evangelischen Glauben doch nicht
der Kirche der Mehrheit seines Volkes angehörte, daß die Kirche Luthers,
den er unter allen Reformatoren am höchsten stellte, nicht die seine war.
Und dies Gefühl ward nur mächtiger, seit er in Königsberg sich dem
Rationalismus abgewendet hatte. Die evangelische Weissagung „auf daß
sie Alle eins seien gleich wie Du, Vater in mir“ erschütterte ihn bis in
die Tiefen des Herzens. „Nach meiner einfältigen Meinung“, so sagte er
oft im Gespräch mit geistlichen Herren, „ist der Abendmahlsstreit nur eine
unfruchtbare theologische Spitzfindigkeit neben dem schlichten Bibelglauben
des ursprünglichen Christentums.“ Er betrachtete die Union als die Rück-
kehr zu dem Geiste des Evangeliums und erfuhr mit Freude, daß sein
geliebter Bischof Borowsky, der fromme, glaubensstarke Lutheraner, dieser
Ansicht ebenso günstig war wie sein reformierter Lehrer Sack. Der bibel-
feste Greis, dessen freudiger Zuruf „dem Menschen geschieht wie er glaubt"
den gebeugten Fürsten so oft in kummervollen Stunden getröstet hatte, war
auch Kants Freund gewesen und stand der modernen Wissenschaft nahe genug
um zu erkennen, daß die Unterscheidungslehren der beiden protestantischen