Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Schreib= und Lesesucht. 25 
Mit dem sicheren Blicke des erfahrenen Buchhändlers erspähte der 
rührige F. A. Brockhaus diesen mächtigen Zug der Zeit und ließ seit 
dem Jahre 1818 ein älteres, bisher wenig beachtetes Sammelwerk zu 
einem großen Konversationslexikon umarbeiten, das in angenehmer alpha- 
betischer Reihenfolge dem gebildeten Deutschen „alles Wissenswerte“ hand- 
lich vorlegte. Es war der Anfang jener massenhaften Eselsbrücken-Lite- 
ratur, welche das neunzehnte Jahrhundert nicht zu seinem Vorteil aus- 
zeichnet. Das Unternehmen, so undeutsch wie sein Name, fand doch 
Anklang in weiten Kreisen und bald zahlreiche Nachahmer; ganz ohne 
solche Krücken konnte sich dies mit der Erbschaft so vieler Jahrhunderte 
belastete Geschlecht nicht mehr behelfen. Niebuhr aber beobachtete mit 
unverhohlenem Entsetzen die Wandlung, die sich in der Gesittung der 
Nation allmählich vorbereitete; er sah voraus, wie friedlos, leer und zer- 
fahren, wie unselbständig in ihrem Denken die moderne Welt werden 
mußte, wenn der hohle Dünkel des Halb= und Vielwissens, das Verlangen 
nach immer wechselnden Eindrücken überhandnahm. Auch Goethe wußte, 
daß hier die schlimmste Gefahr für die Kultur des neuen Jahrhunderts 
lag, und schrieb die ernste Warnung: 
Daß nur immer in Erneuung 
Jeder täglich Neues höre, 
Und zugleich auch die Zerstreuung 
Jeden in sich selbst zerstöre. 
In einer so leselustigen Welt stumpfte sich der feine Formensinn schnell 
ab. Man trachtete vor allem nach stofflichem Reiz, und da jede Zeit 
die Schriftsteller hat, welche sie verlangt und verdient, so fand sich auch 
ein Heer von rührigen Romanschreibern, die sich begnügten für den Zeit- 
vertreib zu sorgen und einige Jahre lang in den kritischen Blättern ge- 
nannt zu werden. Es blieb fortan ein unterscheidender Charakterzug des 
neuen Jahrhunderts, daß die Werke der Poesie wie vereinzelte Goldkörner 
in einem ungeheueren Schutthaufen wertloser Unterhaltungsschriften ver- 
steckt lagen und immer erst nach längerer Zeit aus der Masse des tauben 
Gesteins herausgefunden wurden. Nur war es in jenen anspruchslosen 
Tagen nicht wie heute die industrielle Betriebsamkeit, was so viele Un- 
berufene auf den deutschen Parnaß führte, sondern in der Regel die 
Eitelkeit und die literarische Mode. Wie in der dramatischen so zeigten 
auch in der Roman= und Novellendichtung die poetischen Naturen selten 
das Talent der Komposition, während die Virtuosen der spannenden und 
fesselnden Erzählungen ebenso selten die gestaltende Kraft des Dichters 
bewährten. 
Durch die strenge Wahrhaftigkeit des Krieges war jene weinerliche 
Gefühlsseligkeit, die sich einst vornehmlich an Jean Pauls Schriften ge- 
nährt hatte, auf kurze Zeit zurückgedrängt worden. Jetzt gewann sie 
wieder Raum; in vielen Häusern Norddeutschlands herrschte ein abge-
	        
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