Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Westöstlicher Divan. 43 
Sammlung bildete doch eine stille, das irdische Treiben frei überschauende 
Heiterkeit: „mir bleibt genug, es bleibt Idee und Liebe.“ Die kunstvolle, 
in bisher unerhörten Freiheiten sich ergehende Prosodie des Divans diente 
den gedankenreicheren Lyrikern des folgenden Geschlechts zum Vorbilde. 
Wohl fehlte dann und wann jener Zauber der unmittelbaren Eingebung, 
der allen Jugendwerken Goethes ihre hinreißende Macht gab; einzelne 
steife und gesuchte Wendungen erschienen mehr gedichtet und gedacht als 
empfunden, manche künstliche Arabesken nur eingefügt um den fremd- 
artigen Reiz des Gesamtbildes zu erhöhen. Dafür erschloß der Greis 
im Divan, in den Orphischen Urworten, in den unzähligen Sprüchen 
seiner letzten Jahre einen Schatz der Weisheit, der fast für jede Lebens- 
frage des Gemüts und der Bildung das rechte Wort bot und erst von 
dem heutigen Geschlechte allmählich verstanden wird. Viele Dichtungen 
seines Alters gemahnten an jene rätselhaften Runen unseres Alter- 
tums, vor denen der germanische Held sinnen und träumen konnte bis 
an seinen Tod. Zuweilen wagte er sich bis in die letzten geheimnisvollen 
Tiefen des Daseins, bis dicht an die Grenzen des Sagbaren, wo das 
Wort verstummt und die Musik einsetzt: so in jenem wunderbaren Liede, 
das immer leise in der Seele widerklingt so oft ein Strahl himmlischer 
Glückseligkeit in unser armes Leben fällt: 
Und so lang Du das nicht hast, 
Dieses: Stirb und werde! 
Bist Du nur ein trüber Gast 
Auf der dunklen Erde. 
So lebte er dahin in seiner einsamen Größe, unablässig schauend, 
sammelnd, forschend, dichtend, ins Endliche nach allen Seiten schreitend 
um das Unendliche ahnungsvoll zu ermessen, beglückt durch jeden Son- 
nentag des Frühlings und jede Gabe des reichlichen Herbstes, wie durch 
jedes gelungene Werk der Kunst und jeden neuen Fund im weiten Be- 
reiche menschlichen Wissens. Schillers zarter Körper hatte sich vor der 
Zeit aufgerieben im harten Dienste der Kantischen Pflichtenlehre; bei diesem 
Glücklichen und Kerngesunden erschien die ungeheure, allseitige Tätigkeit 
nur wie die natürliche, mühelose Entfaltung angeborener Kräfte. Die 
ihm ferne standen ahnten kaum, wie ernst er es selber nahm mit seinem 
strengen Worte: nur wer immer wirkt vermag zu wirken; bald kommt 
die Nacht, wo niemand wirken kann! Sie ahnten noch weniger, welch ein 
festes Gottvertrauen den verrufenen Heiden durch sein reiches Alter ge- 
leitete: wie er sich in frommer Scheu hütete der Vorsehung vorzugreifen 
und in jeder zufälligen Fügung des Tages das unmittelbare Eingreifen 
Gottes erkannte — denn nur so erschien dem Künstler die göttliche Welt- 
regierung denkbar. Und da er selber noch mit jedem Tage wuchs als 
ob dies Leben nie ein Ende finden könnte, so blieb auch die Jugend immer 
sein Liebling. Mochte ihn die anmaßende Derbheit des jungen Geschlechts
	        
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