Die Gotik. 45
den weiten Abstand zwischen dem Kennen und dem Können. Wo ihm
unter seinen Verehrern schöpferische Begabung begegnete, da taute er
auf; wie väterlich kam er dem Wunderkinde Felix Mendelssohn-Bartholdy
entgegen und freute sich mit den glücklichen Eltern des schönen Vereines
von feiner Bildung und echtem Talent. —
Als die Dichtung schon in den Herbst eintrat, begann für die bil-
denden Künste erst die Zeit der Blüte. So lange die Begeisterung der
Kriegsjahre anhielt wurde die gotische Kunst allgemein als die wahrhaft
deutsche gepriesen. Die Jugend schien sich für immer von den antiken
Idealen abzuwenden, und Schenkendorf rief gebieterisch: „man soll an
keiner deutschen Wand mehr Heidenbilder sehn!“ Viele der Freiwilligen
aus dem Osten lernten auf den Märschen am Rhein zuerst den Formen-
reichtum unserer Vorzeit kennen; sie meinten in diesen alten Domen die
allein gültigen Musterbilder für die vaterländische Kunst zu finden und
bemerkten kaum, daß ihnen in den Kirchen des verhaßten Frankreichs
überall der nämliche „altdeutsche“ Stil begegnete. Wenn sie zu dem alten
Kran droben auf dem unvollendeten Turme des Kölner Domes empor-
schauten, dann dachten sie mit ihrem ritterlichen Sänger: „daß das Werk
verschoben bis die rechten Meister nah'n!“ Der Kronprinz fühlte sich
ganz überwältigt von dem Anblick der majestätischen Ruine; auf seinen
Betrieb wurde Schinkel nach Köln gesendet und erklärte in seinem Gut-
achten: einen solchen Bau erhalten, das heiße ihn vollenden.
Von dieser Stimmung der Zeit ward auch König Friedrich Wilhelm
berührt, als er nach dem ersten Pariser Frieden beschloß, das Gedächtnis
der deutschen Siege durch die Erbauung eines prächtigen altdeutschen Do-
mes in Berlin zu verherrlichen. In Altpreußen erklang bald nachher von
allen Seiten der Ruf: das herrliche Hochmeisterschloß, die von der Roheit
der Polen und dem prosaischen Kaltsinn des fridericianischen Beamten-
tums so schändlich verstümmelte Marienburg müsse in ihrer alten Pracht
wieder aufgerichtet werden, ein Siegesdenkmal für das alte Ordensland,
das sich so gern rühmte die anderen Deutschen zum heiligen Kampfe er-
weckt zu haben. Schön, der eifrige Wortführer des altpreußischen Pro-
vinzialstolzes, trat an die Spitze des Unternehmens; er dachte dies schönste
weltliche Bauwerk unseres Mittelalters zu einem preußischen Westminster
zu erheben, woran jeder aus dem Volke seinen Anteil nähme. Der
König übernahm den Wiederaufbau; die dünnen Zwischenwände, die ein
philisterhaftes Geschlecht mitten durch die ungeheuren Säle gezogen hatte,
fielen zusammen; über den schlanken Pfeilern der Remter erhoben sich
wieder leicht und frei gleich den Fächern der Palmen die alten gotischen
Gewölbe. Die Ausschmückung des Ordensschlosses überließ man der Nation.
Geld wurde nicht angenommen: wer mithelfen wollte mußte selber einen
Teil des Bauwerks künstlerisch ausstatten. Der Adel, die Städte, die
Korporationen der verarmten Provinz wetteiferten in Geschenken, Patrioten