62 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
deutsche Rechtswissenschaft allmählich wieder heimisch in dem wirklichen
Rechte, und nach zwei Menschenaltern fühlte sie sich stark genug den
Meister selbst zu widerlegen, den Beruf der Zeit zur Gesetzgebung durch
die Tat zu erweisen.
Den vorherrschenden Meinungen des Tages lief die historische Rechts—
lehre schnurstracks zuwider. Die Patrioten grollten weil ihnen ein Lieb—
lingstraum zerstört war; auch das Selbstgefühl der Philosophen fühlte sich
tief beleidigt. Hegel nannte Savignys Schrift eine dem Zeitalter ange—
tane Schmach, und Schön, der liberale Kantianer wollte in der mächtigen
Gedankenarbeit der geschichtlichen Rechtswissenschaft sein Lebelang nichts
weiter sehen als „Notizen aus Chroniken“. Aber auch die Bureaukratie
des Rheinbundes hörte mit Abscheu von der rechtsbildenden Kraft des
Volksgeistes, die der Weisheit des grünen Tisches so wenig Raum ließ; der
bayrische Staatsrat Gönner beschuldigte in einer gehässigen Schmähschrift
die Anhänger der historischen Schule geradezu der demagogischen Gesinnung.
In Wahrheit standen die Grundgedanken der neuen Lehre hoch über dem
Streite der Parteien. Blieb sie sich selber treu, so mußte sie das starre
Festhalten an der bestehenden Ordnung ebenso entschieden verurteilen wie
den Leichtsinn revolutionärer Gesetzgebungskunst; vollends mit den mysti—
schen Träumen der neukatholischen Romantiker hatte ihre kritische Strenge
und Nüchternheit nichts gemein. Trotzdem konnte Savigny den Gesin—
nungsgenossen der Romantik nicht verleugnen. Wie die gesamte Wissen—
schaft jener Tage die Epochen der hellen, bewußten Bildung geringschätzte
neben dem dunkelklaren Jugendleben der Völker, wie die Brüder Grimm
das Volkslied vor der Kunstdichtung bevorzugten und Arnim ihnen prei—
send zurief: „ihr achtet was keinem eigen, was sich selbst erfunden,“ so
verweilte auch der Meister der historischen Rechtslehre mit Vorliebe bei
den Zeiten der halb bewußtlosen Rechtsbildung, da Gesetz und Sitte noch
ungeschieden beisammen liegen und das Recht gleich der Sprache sich selber
zu erfinden scheint. Wie die ganze Zeit noch von der ästhetischen Welt—
anschauung beherrscht ward, so legte auch Savigny unwillkürlich den Maß-
stab der Kunst an das Recht und verlangte von dem Gesetzgeber, was die
Dichter der Aenien einst mit Recht von dem Künstler gefordert hatten:
daß er schweige wenn er nicht vermöge das Ideal zu verwirklichen. Er
übersah, daß im politischen Leben das harte Gebot der Not entscheidet,
daß der Staatsmann nicht das Vollkommene zu schaffen hat, sondern
das Unentbehrliche; mit gutem Grunde hielt ihm Dahlmann entgegen:
„bricht das Dach über meinem Haupte zusammen, so ist mein Beruf zum
Neubau dargetan.“
Wie alle Romantiker hatte sich auch Savigny im Kampfe mit den
Ideen der Revolution seine Bildung erworben; und obschon er als Staats-
mann niemals einer extremen Richtung angehörte, so vermochte er gleich-
wohl nicht dieser neuesten Zeit, die doch auch Geschichte war, ihr histo-