Niebuhr. 65
Empfindung, den ganzen Ernst seines sittlichen Urteils in die Darstel-
lung jener Römerkämpfe, die den meisten seiner Vorgänger nur trockner
Wissensstoff gewesen waren; jede Wendung des oftmals harten, immer
edlen und ursprünglichen Stiles spiegelte die tiefe Bewegung einer großen
Seele wieder. Den ersten Band, so gestand er selbst, hätte er niemals
schreiben können ohne eine lebendige Anschauung vom englischen Staate;
seitdem hatte er, im Innersten erschüttert, die Stürme einer ungeheueren
Zeit über den Staat seiner Wahl dahinbrausen sehen; er fühlte, wie
ihm durch solche Erlebnisse das Verständnis wuchs für die Geschichte Roms,
welche einst, wie die See die Ströme, die Geschichte aller Völker in sich auf-
genommen. Dann führte ihn sein diplomatischer Beruf nach Rom selbst.
Jahrelang wohnte er dort in dem Palaste, der auf hohem Schuttberge
mitten aus den grandiosen Trümmern des Mareellustheaters empor-
steigt, und obwohl er die Sehnsucht nach der Heimat niemals überwand,
so fand sich doch seine historische Phantasie, die das Ferne und Fremde
aus dem Nahen und Vertrauten zu erklären liebte, auf Schritt und Tritt
mächtig angeregt. Die alte Welt trat ihm sinnlich nahe; in der Gestalt
der Äcker und der Feldflur erkannte er noch die Kunstfertigkeit der alten
Agrimensoren, in dem Elend der modernen Halbpächter sah er den Fluch des
römischen Latifundienwesens fortwirken; und wenn er im Vatikan den alten
Sarkophag mit dem rührenden Bilde des treuen Ehepaares beschaute, dann
war ihm zu Mute, als sähe er sich selber und seine verklärte erste Frau.
So erhielt die langsam gereifte Umarbeitung und Fortsetzung des
Werkes jenen eigentümlich warmen Ton, der selbst trockenen Zahlenreihen
und umständlichen kritischen Exkursen den Reiz des Lebens gab. Das
Altertum hatte bisher als eine von der unseren völlig abgetrennte Welt
gegolten; hier aber erschien alles vertraut und verständlich, der Historiker
schilderte das Schicksal des C. Pontius und des Pyrrhus ebenso einfach
menschlich wie er vor kurzem, in einer meisterhaften Skizze, das Leben seines
Vaters, des großen Reisenden Carsten Niebuhr erzählt hatte. Den recht—
gläubigen Philologen der alten Schule war der kühne Kritiker, der die Über—
lieferungen der römischen Königsgeschichte zerstört hatte, längst ein Dorn im
Auge. Welches Entsetzen vollends, da er nunmehr mit staatsmännischer
Einsicht die Notwendigkeit jener langsamen Revolution, welche die Plebes
zur Herrschaft führte, und sogar die Berechtigung der verrufenen Acker—
gesetze darlegte; ja er scheute sich nicht, die neue Lehre der Romantiker,
daß nur die nationale Dichtung wahrhaft lebe, selbst auf die Klassiker
Roms anzuwenden und sagte rundheraus: „wenn Form überhaupt tötet,
so noch mehr die fremde; daher war die römische Literatur in einem ge—
wissen Sinne totgeboren!“
Und doch lag selbst in diesem freien Geiste ein Zug krankhafter,
schwarzsichtiger Ängstlichkeit, der ihn zuweilen die lebendigen Kräfte der
Zeit völlig verkennen ließ. In finsteren Augenblicken beklagte der Leiden—
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. II. 5