Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Die Grundherrschaft im Osten. 101 
des gemeinsamen Feldbaus verfolgte und die Kirche für Armenpflege und 
Unterricht nothdürftig sorgte. Seit aber die Reformation das Armen— 
und Schulwesen secularisirt und die Landgemeinde sich nach und nach 
aus einer wirthschaftlichen Genossenschaft in eine politische Gemeinde 
verwandelt hatte, zeigten sich die zwerghaften Communalgebilde des 
Nordostens völlig hilflos. Wie konnten sie mit ihren dürftigen Mitteln 
Wege bauen, Schulen unterhalten und alle die andern Leistungen für 
das gemeine Wohl aufbringen, welche der erstarkte Staat jetzt von ihnen 
heischte? Zumal in Altpreußen und Polen, wo das Dorf durchschnittlich 
kaum zweihundert Köpfe zählte, war von modernen Communalanstalten 
noch fast gar nichts vorhanden. 
Einige Beihilfe leistete freilich der Grundherr, dem hier im Osten 
noch fast überall die Patrimonialgerichtsbarkeit, die niedere Polizei und 
das Kirchenpatronat zustanden: er war in seinem Gutsbezirke selber der 
Gemeindevorstand und ernannte den Schulzen für sein Dorf. Dies 
patriarchalische Verhältniß, das noch im Allgemeinen Landrecht als die 
normale Dorfverfassung betrachtet wurde, begann sich indeß seit der neuen 
Agrargesetzgebung gänzlich zu verschieben. Durch die Ablösung der bäuer- 
lichen Lasten und Dienste wurde das Dorf von dem Rittergutsbesitzer 
wirthschaftlich unabhängig; die Grundherrschaft war jetzt nur noch ein 
Privatbesitz, der in einer freien Nachbargemeinde den größten Theil der 
Communallasten zu tragen und die Rechte der Ortsobrigkeit auszuüben 
hatte. Wie oft hatte der König seit dem Jahre 1808 ausgesprochen, daß 
diese Trümmer der altständischen Staatsordnung baldigst fallen müßten. 
Die Verbindung obrigkeitlicher Rechte mit dem Besitz der Scholle wider- 
sprach nicht nur den ersten Grundsätzen moderner Rechtsgleichheit; die 
Grundherrschaft vermochte auch ihren polizeilichen Pflichten nicht mehr 
zu genügen seit die Fabriken auf das flache Land drangen und die Frei- 
zügigkeit viele Heimathlose in die Dörfer warf; ohne die Hilfe der Gens- 
darmerie des Staates hätten sich die Ortsobrigkeiten nicht einmal der 
Vagabunden erwehren können. Und während der wachsende Verkehr seine 
Ansprüche an die ländliche Polizei täglich steigerte, ging der Grundherr 
ganz in den Sorgen seiner eigenen Wirthschaft auf. Wer sich jetzt noch 
auf dem verschuldeten und verwüsteten väterlichen Gute behaupten wollte, 
mußte hart arbeiten und die neue Lehre der rationellen Landwirthschaft 
gründlich kennen. Das alte Sprichwort, daß auf dem Lande Jeder mit 
einer Handvoll Glück und Verstand auskomme, galt längst nicht mehr; 
das Rittergut verlangte einen ganzen Mann, zumal seit die Brennerei, 
Dank der neuen Branntweinsteuer, bei geschicktem Betriebe reichen Ertrag 
bringen konnte, und mancher Edelmann, der auf den Krämergeist der 
Städte stolz herabsah, wurde, ohne es zu merken, selber ein eifriger 
Industrieller. Wo blieb da noch Zeit und Kraft für die Pflichten der 
Ortsobrigkeit?
	        
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