Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

422 III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod. 
wie weit stand die Wirklichkeit hinter dem Ideale der allgemeinen Wehr- 
pflicht zurück. Der enge Rahmen des stehenden Heeres reichte kaum aus 
um die Hälfte der Dienstfähigen aufzunehmen. Auch der Nothbehelf der 
Landwehr-Rekruten bewährte sich schlecht; diese mangelhaft ausgebildeten 
Krümper paßten am wenigsten zu den altgedienten Wehrmännern. Da 
der unüberschreitbare Ausgabenetat schlechterdings keine Vermehrung der 
Linientruppen gestattete, so schien nur noch ein Mittel übrig, um mindestens 
die Mehrzahl der Wehrpflichtigen durch die Schule des stehenden Heeres 
gehen zu lassen: die Herabsetzung der Dienstzeit auf zwei Jahre. Diesen 
Ausweg empfahlen Müffling und mehrere andere Generale, der König 
aber trug Bedenken, die ohnehin allzu schwache Linienarmee auch noch in 
ihrer technischen Ausbildung zu schädigen. Die falsche Sparsamkeit des 
Kriegsministers Hake, der den dringenden Mahnungen der Finanz- 
verwaltung nie zu widersprechen wagte, wurde bereits zur Verschwendung, da 
die Ausgaben für das Heer ihren Zweck nicht mehr ganz erreichten. Die 
Kriegstüchtigkeit der Landwehr sank, seit das zweite Aufgebot gar nicht 
mehr, das erste nur noch einmal jährlich auf vierzehn Tage zu Uebungen 
einberufen wurde. Für die schleunige Mobilmachung des Heeres war nur 
mangelhaft vorgesorgt; der Generalstab, der im Kriege 100 Offiziere brauchte, 
mußte sich im Frieden mit 44 begnügen, wovon 26 an die Armcecorps 
vertheilt waren. Mit Sorge berechneten die Generale, daß Preußen bei 
plötzlich einbrechender Kriegsgefahr seine Rüstungen zwar vielleicht etwas 
schneller als die Nachbarstaaten beenden könne, aber nicht schnell genug 
um mit Sicherheit die Offensive zu ergreifen, welche dem Charakter und 
den Ueberlieferungen dieses Heeres entsprach. 
Auch die preußische Armee blieb nicht unberührt von der Erstarrung, 
welche in dieser langen Friedenszeit alle großen Heere Europas, am ärgsten 
das österreichische, überfiel. Das Avancement stockte gänzlich, Leutnants mit 
zwanzig Dienstjahren waren schon nicht selten; kein Regiment, das nicht 
einige überzählige Offiziere in den Listen führte. Die Formen des Dienstes, 
die sich während des Krieges etwas aufgelockert hatten, wurden wieder 
mit altpreußischer Peinlichkeit gehandhabt, denn der König erkannte, daß 
bei so kurzer Dienstzeit die Mannschaft nur durch unnachsichtliche Strenge 
militärisch erzogen werden konnte; aber auch die unfruchtbaren Künste des 
Exercirplatzes erlangten wieder eine übermäßige Geltung. Bei vielen In- 
fanterieregimentern wurde auf Lehrschritt und Parademarsch mehr Werth 
gelegt, als auf Felddienst und Schießübungen. Mancher General der 
Cavallerie meinte das Höchste gelungen, wenn er seine Schwadronen in 
schnurgerader Front — die Pferde scharf gezäumt, stark versammelt und 
mit hoch aufgerichteten Hälsen — in feierlichem kurzem Galopp oder Trab 
defiliren sah; die wichtigste Aufgabe der Reiterei, das rasche Durchmessen 
weiter Entfernungen, fand wenig Beachtung. Selbst die Allgemeine Kriegs- 
schule in Berlin leistete in diesen müden Jahren nur Mittelmäßiges, obgleich
	        
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