Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Aufhebung der Leibeigenschaft. 575 
Tage in der Woche für den gnädigen Herrn, der, wie der Pächter im 
Domanium, mit Stock und Peitsche das Recht des Dienstzwangs übte und 
bei schlechter Wirthschaft den Bauer unnachsichtlich abmeiern ließ. 
Dies Bauernelend hatte Stein im Auge, wenn er das Schloß des 
mecklenburgischen Edelmanns mit der Höhle des Raubthieres verglich, und 
Schlözer, wenn er diese Ritter privilegirte Landesverräther nannte. Unter 
solchen Eindrücken bildete sich Voß seinen leidenschaftlichen Haß gegen den 
Erbadel, „dies stinkende Ehrenkleid aus der Lade der Ahnen“. Bei der 
großen Nahrhaftigkeit des Landes war die Lage der Bauern nicht überall 
unerträglich. Im „Hahn'schen“ hausten die Gutsunterthanen behaglicher 
als anderswo die Freien; auch die Maltzan und andere durch ihren Ahnen- 
stolz bekannte Familien sorgten immer väterlich für ihre Leute. Durch die 
milderen Sitten der neuen Zeit ward allmählich der Dienstzwang etwas 
erleichtert. Die Mehrzahl der kleinen Leute aber lebte in arger Roheit, 
vielfach mißhandelt, in elenden Schulen kaum nothdürftig unterrichtet. 
In dem Jahrzehnt der Revolution bekundete sich der Groll des armen 
Mannes zum Schrecken des Adels in mehrfachen Aufläufen, und als der 
Befreiungskrieg das gesammte Volk unter die Fahnen gerufen hatte, da 
fühlte man endlich, daß man einlenken mußte. Auf dem Landtage von 
1815 nahmen sich die Städte „der edlen Unfreien“ an, die für Deutsch- 
land so wacker gefochten, und nach langen stürmischen Verhandlungen 
ward am 18. Jan. 1820 die Aufhebung der Leibeigenschaft verkündigt — 
seit unvordenklicher Zeit die erste sociale Reform in diesem Lande. Doch 
die Selbstsucht der Ritterschaft hatte dafür gesorgt, daß der Bauer seiner 
Freiheit nicht froh wurde. Er erlangte nur die Befreiung von der 
Scholle, durchaus keinen Anspruch auf Grund und Boden. Wagte er 
seinem Dienstherrn zu kündigen, so ward er heimathlos und erfuhr, was 
der landläufige Jammerruf „kein Hüsung“ bedeutete; von einer Gutsherr- 
schaft zur anderen abgeschoben mußte er schließlich in dem großen Land- 
armenhause zu Güstrow eine Zuflucht suchen. Schon nach Jahresfrist 
war das gewaltige alte Obotritenschloß zu klein um die Masse der neuen 
Heimathlosen zu beherbergen, und der Landtag beschloß, die Grundherren 
sollten fortan den befreiten Leibeigenen ein Obdach geben — was aber 
war solch ein Obdach, von widerwilligen Händen gewährt? Von diesen 
Ständen, Friedrich Franz wußte es längst, stand eine ernstliche Erleichte- 
rung des Bauernstandes nicht zu erwarten; darum beschloß der Groß- 
herzog mindestens selber mit gutem Beispiele voranzugehen und ließ seit 
1822 auf seinen Kammergütern eine umfassende Auseinandersetzung vor- 
nehmen. Er wünschte der Mehrzahl seiner bäuerlichen Hintersassen eine 
wohlgesicherte Erbpacht zu verschaffen, aber der Schlendrian der Behörden 
und die wundersam verfitzten Rechtsverhältnisse bewirkten, daß die wohl- 
gemeinte Reform nur sehr langsam fortschritt. 
Unter allen den hocharistokratischen Staaten, welche einst das Ost-
	        
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