562 IV. 8. Stille Jahre.
niedersten Schichten der Gesellschaft an, sie rechtfertigte hier wie überall
den Namen der Proletarier und vermehrte sich schneller als der deutsche
Mittelstand.
So geschah es, daß die deutsche Gesittung trotz der beträchtlichen Ein-
wanderung doch nur langsam vorwärts schritt, und ungeduldige Deutsche
schon an schärfere Mittel dachten. General Grolman empfahl gleich nach
dem polnischen Aufstande die Vernichtung der Provinz Posen, dergestalt
daß ihre Trümmerstücke den drei benachbarten treuen Provinzen zugeteilt
würden; und der vom Bundestag her bekannte Legationsrat Küpfer, ein
geborener Posener, riet der Krone, unter der Oberleitung einer königlichen
Immediatkommission eine große Aktiengesellschaft zu bilden, welche den ge-
samten Grundsitz des polnischen Adels aufkaufen sollte.') Es war der
Schatten kommender Ereignisse; das gegenwärtige Geschlecht mit seinem
knappen Staatshaushalte konnte sich so kühner Pläne nicht unterwinden.
Aber der Zustand in der Provinz ward immer unleidlicher. Die beiden
Nationen haßten sich nicht nur, sie verachteten einander auch; wie der
Deutsche alle Niedertracht und Unredlichkeit mit dem Worte „polnische
Wirtschaft“ bezeichnete, so konnte sich der Pole den sparsamen Ordnungs-
sinn der Deutschen nur aus einem angeborenen Bedientengeiste erklären.
Niemandempfanddiese Verschärfungder nationalen Gegensätze schmerz-
licher als die wenigen vornehmen Polen, welche weder ihr Volkstum ver-
raten, noch von dem preußischen Staate abfallen wollten. So der alte
tapfere General Chlapowski und der bestgebildete Mann unter den preu-
ßischen Polen, Graf Eduard Raczynski. Wie viele Arbeit hatte der kunst-
sinnige Graf ausgewendet, um sein Heimatland zu bilden und zu schmücken;
er hatte der Stadt Posen ihre schöne Bibliothek und ihre Wasserleitung
geschenkt; er bemühte sich, durch eine landwirtschaftliche Schule, durch eine
Zuckerfabrik, durch Verbesserungen der Technik des Landbaues seine Stan-
desgenossen zu geregelter Tätigkeit zu ermutigen, und mußte doch erleben,
daß seine gesamte Verwandtschaft sich in Verschwörungspläne verlor, die
er weder fördern noch hindern wollte. Unter so schwierigen Verhältnissen
führte das preußische Beamtentum den Markmannenkrieg für unser Volks-
tum, für Recht und gute Menschensitte, und bei diesen Kämpfen war ihm
Deutschlands öffentliche Meinung entschieden feindlich. Wenn eine liberale
Zeitung sich ja einmal herabließ, der friedlichen Eroberungen in der deutschen
Ostmark zu gedenken, so brachte sie einen Aufsatz aus der Feder eines un-
zufriedenen polnischen Edelmanns, der die Befreiung des Posener Land-
volks als eine preußische Gewalttat verunglimpfte. —
In den anderen Provinzen des Ostens wurde das Stilleben dieser
Jahre fast allein durch kirchliche Wirren gestört. In Königsberg hielt die
*) Küpfer, Denkschrift über die Germanisierung des Großherzogtums Posen. An
Lottum überreicht 27. Jan. 1838.