Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

König Leopold. 83 
bestieg, rettete er durch seine kluge Fügsamkeit gegen die Londoner Kon— 
ferenzen den belgischen Staat vom sicheren Verderben, und mit der 
gleichen diplomatischen Meisterschaft verstand er während eines Menschen— 
alters zwischen den beiden großen Parteien hindurchzusteuern, so daß er 
sich nicht nur persönlich den Dank der Belgier verdiente, sondern sogar 
ein schwaches Gefühl dynastischer Anhänglichkeit in diesem Staate von 
gestern wachrief. Als Freimaurer und alter Freund der Whigs den 
Liberalen willkommen, gewann er auch das Vertrauen der Klerikalen und 
nahm selbst den eifernden Papst Gregor XVI. für sich ein. Obwohl er 
die Verfassung gewissenhaft einhielt und seine Ministerien je nach den 
wechselnden Abstimmungen der Kammern bereitwillig veränderte, blieb er 
sich doch seiner Überlegenheit stets bewußt und sagte zu Vertrauten: 
„für Belgien, wie es gegenwärtig ist, bin ich der Staat.“ 
Alle Fäden der auswärtigen wie der inneren Politik des Landes 
liefen zusammen im Schlosse von Laeken, wo dieser Stille bedachtsam 
seine Netze wob — eine hohe, schlanke Gestalt mit blassen, vornehmen 
Zügen, dunklen, schwermütigen Augen und glatt anliegender schwarzer 
Perücke, leise im Sprechen, langsam, müde in den Bewegungen, ver— 
schwiegen in allem, im Geschäft so gut wie in der Liederlichkeit. In 
England nannte man ihn den Monsieur Peu-à-peu, den Marquis Tout- 
doucement; an den deutschen Höfen, die ihm allerdings nicht wohlwollten, 
hieß er Leopold Schleicher. Stundenlang konnte er, stumm über seinen 
Plänen brütend, vor seinem Schildpattkästchen Goldfäden drieseln, derweil 
man dem gewiegten Kenner Sonaten vorspielte oder aus gelehrten Werken, 
aus Memoiren, aus Romanen vorlas. Eine höhere Sittlichkeit als den 
klug rechnenden Weltsinn kannte er nicht; als einer seiner Neffen ein— 
gesegnet wurde, warnte er ihn vor dem Egoismus also: „es ist im In- 
teresse vieler Leute, diese höchst unliebenswürdige Eigenschaft bei einem 
jungen Fürsten auszubilden und späterhin als eine ergiebige Mine zu 
exploitieren.“ Tapfer auf dem Schlachtfelde, aber im täglichen Leben 
ängstlich auf sein Leibeswohl bedacht, verstand er auch die Kunst des 
Kaufmannes aus dem Grunde. Um politische Freunde zu gewinnen, 
bezwang er zuweilen seine Sparsamkeit und spendete mit vollen Händen; 
durch seine Verbindung mit der Börse brachte er dann die Verluste wie— 
der ein und sammelte das große Vermögen an, dessen die demokratische 
Krone in diesem gewerbfleißigen Volke bedurfte. Dergestalt kam mit den 
beiden Bürgerkönigen der Juli-Revolution, mit den Häusern Orleans und 
Koburg ein neuer Menschenschlag in die Reihen des europäischen hohen 
Adels; geriebene Geschäftsleute mit dem Kurszettel in der Tasche, schlicht 
und unscheinbar in ihrem Auftreten, Günstlinge der Fortuna gleich den 
Tyrannen des Cinquecento, durchaus unempfänglich für die Gefühle der 
Ritterlichkeit und der historischen Pietät, aber im Grunde des Herzens 
ganz ebenso hochmütig wie der aristokratische Fürstenstand der alten Zeit. 
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